4. Der Opportunismus in der Dritten Internationale
Die Frage des Opportunismus in unseren eigenen Reihen ist von so grosser Bedeutung, dass ich über sie noch ausführlicher sprechen will.
Genosse! Mit der Errichtung der dritten Internationale ist auch bei uns der Opportunismus nicht gestorben. Wir sehen ihn schon in allen kommunistischen Parteien, in allen Ländern. Es würde ein Mirakel sein und allen Gesetzen der Entwicklung widersprechen, wenn dasjenige, wodurch die zweite Internationale starb, nicht in der dritten fortlebte!
Im Gegenteil, wie in der zweiten Internationale der Kampf zwischen Anarchismus und Sozialdemokratie ausgefochten wurde, so wird der zwischen Opportunismus und revolutionärem Marxismus ausgefochten werden in der dritten.
Kommunisten werden auch jetzt wieder ins Parlament gehen, um Führer zu werden. Gewerkschaften und Arbeiterparteien werden unterstützt werden, um Stimmen bei Wahlen zu bekommen. Statt dass Parteien gegründet werden für den Kommunismus, wird der Kommunismus gebraucht werden, um Parteien zu gründen. Schlechte parlamentarische Kompromisse mit Sozialpatrioten und Bürgerlichen werden wieder in Brauch kommen, da doch die Revolution in Westeuropa eine langsame sein wird. Die Freiheit des Wortes wird unterdrückt werden und gute Kommunisten werden ausgestossen werden. Kurz, die Praktiken der zweiten Internationale werden wieder aufleben.
Dagegen muss die Linke aufstehen, zum Kampf dagegen muss sie da sein, wie sie das in der zweiten Internationale war. Die Linke muss darin von allen Marxisten und Revolutionären unterstützt werden, auch wenn sie meinen, dass sie im einzelnen irrt. – Denn der Opportunismus ist unser grösster Feind. Nicht wie Sie (Seite 13) sagen, nur ausserhalb, sondern in unseren Reihen.
Tausendmal schlimmer, dass der Opportunismus mit seinen verheerenden Folgen für die Seele und die Kraft des Proletariats sich Wieder einschleicht, als dass die Linke zu radikal auftritt. Die Linke, auch wenn sie einmal zu weit geht, bleibt immer revolutionär. Die Linke wird ihre Taktik ändern, sobald sie sieht, dass diese nicht richtig ist. Die opportunistische Rechte wird immer opportunistischer werden, immer mehr im Morast versinken, immer mehr die Arbeiter verderben. Nicht umsonst haben wir das im 25jährigen Kampf erlebt. Der Opportunismus ist die Pest der Arbeiterbewegung, der Tod der Revolution. Durch den Opportunismus kam alles Üble, der Reformismus, der Krieg, die Niederlage, der Tod der Revolution in Ungarn und Deutschland. Der Opportunismus ist die Ursache unseres Untergangs. Und er ist da, in der dritten Internationale.
Was brauche ich viele Worte? Sehen Sie um sich, Genosse. Ach, sehen Sie in sich selbst und ins Exekutivkomitee! Sehen Sie in alle Länder Europas.
Lesen Sie die Zeitung der British Socialist Party, jetzt die der Kommunistischen Partei. Lesen Sie zehn, zwanzig Exemplare dieser Zeitung, lesen Sie die schwache Kritik an den Gewerkschaften, der Labour Party, den Parlamentsmitgliedern, und legen Sie diese neben die Zeitung der "Linken". Vergleichen Sie die Zeitung der Partei, die zur Labour Party gehört, mit dieser, die sie bekämpft, und Sie werden wissen, dass der Opportunismus in grossen Massen sich der dritten Internationale naht. Um wieder (durch Unterstützung der konterrevolutionären Arbeiter) Macht zu bekommen im Parlament. Macht! ... nach dem Muster der zweiten Internationale. – Bedenken Sie auch, daß die USP bald in die dritte Internationale kommen wird – und bald zahlreiche andere Parteien vom Zentrum! Glauben Sie, dass, wenn Sie diese Parteien zwingen, Kautsky, Thomas usw. usw. auszustossen, nicht eine Unmenge, zehntausende andere Opportunisten kommen? Die ganze Massregel dieses Ausstossens ist kindisch. Eine ungezählte Masse von Opportunisten naht. (1). Besonders nach dieser Ihrer Broschüre.
Sehen Sie die die holländische Kommunistische Partei, einmal die Bolschewiki von Westeuropa genannt. Und auch, nach den Verhältnissen gerechnet, mit Recht. Lesen Sie die Broschüre über die holländische Partei, wie sie gänzlich schon vom Opportunismus der zweiten Internationale korrumpiert ist. Sie hat sich während des Krieges und nachher, und sogar jetzt noch, der Entente ergeben. Sie, die einmal so glänzend war, ist ein Muster von Zweideutigkeit und Betrug geworden.
Aber sehen Sie doch nach Deutschland, Gemesse, nach dem Lande, wo die Revolution entbrannt ist. Dort haust und wächst der Opportunismus. Mit Staunen hörten wir, dass Sie die Haltung der KPD während der Märztage unterstützten. Aber glücklicherweise sahen wir aus Ihrer Broschüre, dass Sie den Gang der Ereignisse nicht kannten. Sie billigten wohl die Haltung der KPD-Zentrale, die Ebert, Scheidemann, Hilferding, Crispien loyale Opposition anbot, aber Sie wussten augenscheinlich, als Sie die Broschüre schrieben, noch nicht, dass dies im selben Moment geschah, in dem Ebert die Truppen gegen das deutsche Proletariat sammelte, wo der Generalstreik noch in grossen Teilen Deutschlands allgemein war und die grosse Mehrheit der kommunistischen Masse die Revolution, wenn nicht zum Siege (dies war vielleicht noch unmöglich), aber doch zu höherer Kraft zu bringen versuchte. Indem die Masse mit Streiks und bewaffnetem Aufstand die Revolution weiterführte (es hat noch nichts so Gewaltiges und Hoffnungsvolles gegeben als den Aufstand im Ruhrgebiet und den allgemeinen Streik), boten die Führer parlamentarische Kompromisse an. (2). Damit unterstützten sie Ebert gegen die Revolution im Ruhrgebiet. Wenn es je ein Beispiel gegeben hat, wie verflucht der Gebrauch des Parlamentarismus in der Revolution, in Westeuropa sein kann, dann ist es dieses. Sehen Sie, Genosse, das ist der parlamentarische Opportunismus, das ist der Kompromiss mit den Sozialpatrioten und den Unabhängigen, den wir nicht wollen und den Sie in die Wege leiten!
Und, Genosse, was ist, schon jetzt, aus den Betriebsräten geworden in Deutschland? Sie und die Exekutive und die dritte Internationale hatten den Kommunisten geraten, hineinzugehen mit allen anderen Richtungen, damit sie die Führung der Gewerkschaften bekamen. Und was ist geschehen? Das Umgekehrte. Die Betriebsrätezentrale ist schon fast zu einem Werkzeug der Gewerkschaften geworden! Die Gewerkschaften sind ein Oktopus, der alles Lebendige, das in seinen Bereich kommt, erwürgt.
Genosse, lesen, untersuchen Sie selbst alles, was in Deutschland, in Westeuropa geschieht, und ich habe alle Hoffnung, dass Sie zu uns herüberkommen werden. So wie ich auch denke, dass die Erfahrung die dritte Internationale zu unserer Taktik bringen wird.
Aber, wenn der Opportunismus so in Deutschland geht, wie wird er dann in Frankreich und England gehen!
Sehen Sie, Genosse, das sind die Führer, die wir nicht wollen. Das ist die Einheit von Masse und Führer, die wir nicht wollen. Und das ist die eiserne Disziplin, der militärische Kadavergehorsam, die wir nicht wollen.
Ein Wort sei hier zum Exekutivkomitee und in ihm speziell zu Radek gesagt: Das Exekutivkomitee hat die Stirn gehabt, von der KAPD zu fordern, dass sie Wolffheim und Laufenberg ausstiess, statt diese, Frage ihr zu überlassen. Es hat die KAPD mit Drohungen empfangen und die Zentrumsparteien, wie die USP, umschmeichelt. Aber es hat von der italienischen Partei nicht gefordert, dass sie die Sozialpatrioten hinauswirft! Es hat von der KPD nicht gefordert, dass sie die Zentrale hinauswirft, die durch ihr Angebot mitverantwortlich ist für, das Niederkartätschen der Kommunisten im Ruhrgebiet. Es hat von., der holländischen Partei nicht gefordert, dass sie Wynkoop und van, Ravesteyn hinauswirft, die im Kriege der Entente holländische Schiffe, angeboten haben. Das bedeutet nicht, dass ich wollte, dass diese Genossen hinausgeworfen würden. Nein, ich halte alle diese Genossen für gute Genossen, die nur geirrt haben, weil die Entwicklung, der Anfang der westeuropäischen Revolution so schrecklich schwierig ist. Wir, wie alle hier, werden noch viele grosse Fehler machen. Ausserdem würde das Hinauswerfen jetzt in dieser Internationale nichts helfen.
Ich weise nur darauf hin, um noch wieder mit einem neuen Beispiel zu zeigen, wie sehr der Opportunismus schon in unseren eigenen.., Reihen wütet. Denn die Moskauer Zentrale hat nur darum diese Ungerechtigkeit gegen die KAPD begangen, weil sie für ihre opportunistische Welttaktik die wirklich Revolutionären nicht wollte, sondern die opportunistischen Unabhängigen usw. Sie hat die Taktik von Wolffheim und Laufenberg, obschon sie wussten, dass die KAPD damit nicht einverstanden war, absichtlich gegen die KAPD gebraucht. Nur aus den elendsten opportunistischen Gründen. Weil sie, wie die Gewerkschaften, so die politischen Parteien, weil sie Massen um sich haben will, seien sie kommunistisch oder nicht.
Zwei andere Taten der dritten Internationale beweisen auch deutlich, wohin sie geht. Die erste ist die Absetzung des Amsterdamer Büros, der einzigen Gruppe revolutionärer Marxisten und Theoretiker in Westeuropa; die nie gewankt hat. Die zweite, fast noch schlimmere, ist die Behandlung der KAPD, der einzigen Partei in Westeuropa, die, als Organisation, als Ganzes, von ihrem Entstehen an bis jetzt, die Revolution geführt hat, wie sie geführt werden soll. Indem die Zentrumsparteien, die Unabhängigen, das französische und englische Zentrum, die die Revolution immer verraten haben, mit allen Mitteln gelockt wurden, wurde die KAPD, die wirkliche revolutionäre Partei, wie ein Feind behandelt. – Das sind schlechte Zeichen, Genosse.
Mit einem Wort: Die zweite Internationale lebt noch, oder wieder, unter uns. Und ins Verderben führt der Opportunismus. Und weil er dahin führt und weil er unter uns ist, stark, sehr stark, stärker, als ich je geträumt hätte, darum muss die Linke da sein. Auch wenn die anderen guten Gründe für ihr Dasein nicht bestünden, müsste sie da sein als Opposition, als Gegengewicht gegen den Opportunismus.
Ach, Genosse, wenn Sie die Taktik der "Linken" in der dritten Internationale befolgt hätten, die nichts anderes ist als die "reine" Taktik der Bolschewiki in Russland, aber dann den westeuropäischen (und nordamerikanischen) Verhältnissen angepasst!
Wenn Sie als Forderungen und Statuten für die dritte Internationale vorgestellt und durchgeführt hätten die ökonomische Organisation in Betriebsorganisationen und Arbeiter-Unionen (in welchen industrielle Verbände, auf den Betrieben fussend, wenn nötig, eingefügt hätten werden können) und die politische Organisation in Parteien mit Verwerfung des Parlamentarismus!
Dann hätten Sie erstens in allen Ländern feste, absolut feste Kerne, Parteien, bekommen, die die Revolution wirklich ausführen könnten. Die durch ihr eigenes Beispiel in ihrem eigenen Lande und nicht durch Drang von aussen die Massen allmählich um sich gesammelt haben würden. Dann würdet Ihr ökonomische Organisationen bekommen haben, die die konterrevolutionären Gewerkschaften (syndikalistische und freie) zerschmettert haben würden.
Und dann würdet Ihr mit einem Schlag allen Opportunisten den Weg abgeschnitten haben. Denn diese haben nur dort etwas zu suchen, wo Mogelei mit der Konterrevolution zu finden ist.
Dann hättet Ihr aber auch – und das ist bei weitem die Hauptsache die Arbeiter in sehr hohem Maasse, soweit das jetzt in diesem Stadium möglich ist, zu selbständigen Kämpfern gemacht.
Wenn Sie, Lenin, und Sie, Sinowjew, Bucharin und Radek, dies getan, diese Taktik gewählt hätten, mit Ihrer Autorität und Erfahrung, mit Ihrer Kraft und Ihrem Genius, und Ihr hättet uns geholfen, um die Fehler, die uns noch anhaften und die auch in unserer Taktik noch sind, auszumerzen, dann würden wir eine dritte Internationale bekommen haben, innerlich vollkommen fest, äusserlich unerschütterlich, die durch ihr Beispiel allmählich das ganze Proletariat der Weit um sich gesammelt und den Kommunismus errichtet hätte.
Sicher, es gibt keine Taktik ohne Niederlagen. Aber sie würde die wenigsten erlitten und sich am leichtesten wieder aufgerichtet haben, sie würde den kürzeren Weg gegangen sein und den schnellsten, sichersten Sieg errungen haben. Die Ihrige führt zu langdauernden Niederlagen des Proletariats.
Aber Ihr habt dies nicht gewollt, weil Ihr sofort, statt bewusste entschlossene Kämpfer, teilweise oder ganz unbewusste Massen wolltet.
(1)
An einem Tage kamen (in Halle) 500.000 neue Mitglieder unter Führern, die Sie selbst noch vor kurzem schlimmer als die Scheidermänner genannt haben.(2)
Der Genosse Pannekoek, der Deutschland genau kennt, hatte dies vorausgesagt. Wenn die Führer des Spartakusbundes zu wählen haben würden zwischen Parlament und Revolution, würden sie das Parlament wählen.