3. Der Parlamentarismus

Es bleibt jetzt noch übrig, die Linke gegen Sie zu verteidigen in der Frage des Parlamentarismus. (1). Dieselben allgemein-theoretischen Gründe bestimmen auch hier das Verhalten der Linken, wie in der Gewerkschaftsfrage. Das Alleinstehen des Proletariats, die Riesenmacht der Feinde, die Notwendigkeit, dass die Masse sich darum viel höher erhebt, dass sie sich dabei hauptsächlich auf sich selbst stützt usw. Ich brauche diese Gründe hier nicht zu wiederholen.

Aber es kommen hier noch einige andere als bei der Gewerkschaftsfrage hinzu.

Erstens: Die Arbeiter Westeuropas und im allgemeinen die arbeitenden Massen sind ideell ganz der bürgerlichen Kultur, den bürgerlichen Ideen und daher auch dem bürgerlichen Vertretungssystem, dem Parlamentarismus, der bürgerlichen Demokratie unterworfen. Viel mehr als die osteuropäischen. Hier hat sich die bürgerliche Ideologie des ganzen sozialen und daher auch politischen Lebens bemächtigt, sie ist viel tiefer in die Köpfe und Herzen der Arbeiter eingedrungen. Sie sind hier seit Jahrhunderten darin aufgewachsen und erzogen. Diese Ideen haben die Arbeiter ganz durchtränkt.

Sehr schön schildert Genosse Pannekoek diese Verhältnisse in der Wiener Zeitschrift Kommunismus:

"Die deutsche Erfahrung stellt uns gerade vor das grosse Problem der Revolution in Westeuropa. In diesen Ländern hat die alte bürgerliche Produktionsweise und die damit zusammenhängende hochentwickelte Kultur vieler Jahrhunderte dem Denken und Fühlen der Volksmassen völlig ihren Stempel aufgeprägt. Dadurch ist der geistige und innere Charakter der Volksmassen hier ganz anders als in den östlichen Ländern, die diese Herrschaft bürgerlicher Kultur nicht kannten. Und darin liegt vor allem der Unterschied im Verlauf der Revolution im Osten und im Westen. In England, Frankreich, Holland, Skandinavien, Italien, Deutschland lebte vom Mittelalter her ein kräftiges Bürgertum mit kleinbürgerlicher und primitiv kapitalistischer Produktion; indem der Feudalismus zerschlagen wurde, wuchs auf dem Lande ein ebenso kräftiges, unabhängiges Bauerntum empor, das auch Meister in der eigenen kleinen Wirtschaft war. Auf diesem Boden entfaltete sich das bürgerliche Geistesleben zu einer festen nationalen Kultur, vor allem in den Küstenstaaten England und Frankreich, die voran in der kapitalistischen Entwicklung schritten. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hat mit der Unterwerfung der ganzen Wirtschaft diese nationale Kultur gesteigert, verfeinert und mit seinen geistigen Propagandamitteln, Presse, Schule und Kirche, fest in die Köpfe der Massen eingehämmert, sowohl jener Massen, die er proletarisierte und in die Städte zog, als auch jener, die er auf dem Lande liess. Das gilt nicht nur für die Stammländer des Kapitalismus, sondern ähnlich, sei es auch in etwas verschiedenen Formen für Amerika und Australien, wo die Europäer neue Staaten gründeten, und für die bis dahin stagnierenden Länder Zentraleuropas: Deutschland, Österreich, Italien, wo die neue kapitalistische Entwicklung an eine alte, steckengebliebene, kleinbürgerliche Wirtschaft und kleinbürgerliche Kultur anknüpfen konnte. Ganz anderes Material und andere Tradition fand der Kapitalismus vor, als er in die östlichen Länder Europas eindrang. Hier in Russland, Polen, Ungarn, auch in Ost-Elbien, war keine kräftige bürgerliche Klasse, die von altersher das Geistesleben beherrschte; die primitiven Agrarverhältnisse mit Grossgrundbesitz, patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus bestimmten das Geistesleben. (2).

Damit hat Genosse Pannekoek im ideologischen Bereich den Nagel auf den Kopf getroffen. Viel mehr, als je von Ihrer Seite geschehen ist, hat er den Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa von der ideologischen Seite deutlich gemacht und hat von dieser Seite den Schlüssel gegeben zum Finden der revolutionären Taktik für Westeuropa. Man braucht diesen nur zu verbinden mit den materiellen Ursachen der Macht unserer Gegner, d. h. mit dem Bankkapital, und die ganze Taktik wird klar.

Aber mehr noch kann über das ideologische Problem gesagt werden: Die bürgerliche Freiheit, die Macht des Parlaments, ist in Westeuropa von den früheren Geschlechtern, den Vorfahren, in Freiheitskämpfen erkämpft worden, wenn damals auch nur für die Bürger, die Besitzenden, so doch vom Volke. Tief liegt noch der Gedanke an diese Kämpfe als Tradition im Blute dieses Volkes. Ist doch eine Revolution die tiefste Erinnerung eines Volkes. Unbewusst ist der Gedanke, dass vertreten zu werden durch ein Parlament ein Sieg war, eine gewaltige, stille Kraft. Besonders ist dies der Fall in den ältesten bürgerlichen Ländern, wo lange oder wiederholte Freiheitskämpfe stattfanden: in England, Holland und Frankreich. Aber auch, wenn auch in geringerem Maasse, in Deutschland, Belgien und den skandinavischen Ländern. Ein Bewohner des Ostens kann sich vielleicht nicht vorstellen, wie stark dieser Einfluss sein kann.

Ausserdem haben die Arbeiter selbst hier oft viele Jahre für das allgemeine Wahlrecht gekämpft und es dadurch, sei es direkt oder indirekt, erworben. Auch dies war ein Sieg, der damals Früchte trug. Der Gedanke und das Gefühl, dass es ein Fortschritt ist und ein Sieg, sich vertreten und eigene Vertreter für seine Sachen im bürgerlichen Parlament sorgen zu lassen, ist allgemein. Der Einfluss auch dieser Ideologie ist sehr gross.

Und schliesslich ist durch den Reformismus die Arbeiterklasse Westeuropas ganz in die Macht der Parlamentsmitglieder gekommen, die zum Krieg, zum Bunde mit dem Kapitalismus geführt haben. Auch dieser Einfluss, des Reformismus, ist kolossal.

Durch alle diese Ursachen ist der Arbeiter zum Sklaven des Parlaments geworden, das er allein handeln lässt. Er handelt selbst nicht mehr (3).

Da kommt die Revolution. Jetzt soll er selbst alles tun. Der Arbeiter muss jetzt allein mit seiner Klasse den gewaltigen Feind bekämpfen, den fürchterlichsten Kampf bestehen, den die Welt je sah. Keine Taktik der Führer kann ihm helfen. Schroff stehen die Klassen, alle Klassen, den Arbeitern gegenüber, und keine einzige Klasse ist für ihn. Im Gegenteil, wenn er seinen Führern oder anderen Klassen im Parlament vertraut, besteht die grosse Gefahr, dass er in seine alte Schwäche, die Führer handeln zu lassen, zurückfällt, dass er dem Parlament vertraut, dass er in dem alten Wahn bleibt, dass andere die Revolution für ihn machen können, dass er Illusionen nachläuft, dass er in der alten bürgerlichen Ideologie bleibt.

Sehr schön zeichnet Genosse Pannekoek auch wieder dies Verhalten der Masse zu den Führern:

"Der Parlamentarismus ist die typische Form des Kampfes mittels Führer, wobei die Massen selbst eine untergeordnete Rolle spielen. Seine Praxis besteht darin, dass Abgeordnete, einzelne Personen, den wesentlichen Kampf führen; er muss daher bei den Massen die Illusion wecken, dass andere den Kampf für sie führen können. Früher war es der Glaube, die, Führer könnten für die Arbeiter wichtige Reformen im Parlament erzielen; oder gar trat die Illusion auf, die Parlamentarier könnten durch Gesetzbeschlüsse die Umwälzung zum Sozialismus durchführen. Heute, da der Parlamentarismus bescheidener auftritt, hört man als Argument, im Parlament könnten die Abgeordneten Grosses für die Propaganda des Kommunismus leisten. Immer fällt dabei das Hauptgewicht auf die Führer, und es ist selbstverständlich dabei, dass Fachleute die Politik bestimmen – sei es auch in der demokratischen Verkleidung der Kongressdiskussionen und Resolutionen –; die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Kette vergeblicher Bemühungen, die Mitglieder selbst ihre Politik bestimmen zu lassen. Wo das Proletariat parlamentarisch kämpft, ist das alles unvermeidlich, solange die Massen noch keine Organe der Selbstaktion geschaffen haben, also, wo die Revolution noch kommen muss. Sobald die Massen selbst auftreten, handeln und dadurch bestimmen können, werden die Nachteile des Parlamentarismus überwiegend.
Das Problem der Taktik ist, wie in der proletarischen Masse die traditionelle bürgerliche Denkweise auszurotten ist, die ihre Kraft lähmt; alles, was die überlieferte Anschauung neu stärkt, ist vom Übel. Der zäheste, festeste Teil dieser Denkweise ist ihre Unselbständigkeit Führern gegenüber, denen sie die Entscheidung allgemeiner Fragen, die Leitung ihrer Klassenangelegenheiten überlässt. Der Parlamentarismus hat die unvermeidliche Tendenz, die eigene, zur Revolution notwendige Aktivität der Massen zu lähmen. Mögen da schöne Reden zur Weckung der revolutionären Tat gehalten werden, so entspringt das revolutionäre Handeln nicht solchen Worten, sondern nur der harten, schweren Notwendigkeit, wenn keine andere Wahl mehr bleibt.
Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die grossen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion zur Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird – und das ist nur möglich, wenn zuerst die Verhut dann eine immer grössere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiss, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse– glaubt, einen leichteren Weg zu gehen, indem andere für sie handeln – von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen –, wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben.". (4)

Die Arbeiter Westeuropas müssen, und tausendmal soll es gesagt werden, und wenn nötig hunderttausend- und millionenmal – und wer es durch die Geschichte seit November 1918 noch nicht gelernt und gesehen hat, der ist (auch wenn Sie es wären, Genosse) blind –, die westeuropäischen Arbeiter müssen nicht nur gewerkschaftlich sondern auch politisch an erster Stelle selbst handeln, und nicht ihre Führer handeln lassen, weil die Arbeiter allein stehen und weil keine kluge Taktik von Führern ihnen helfen kann. Von ihnen muss die grösste Triebkraft ausgehen. Hier zum ersten Male, in viel höherem Grade als in Russland, muss die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein. Und darum haben die linken Genossen recht, die zu den deutschen Genossen sagen: Lasst euch nicht auf Wahlen ein, boykottiert das Parlament – Ihr müsst politisch alles selbst tun Ihr könnt nur siegen, wenn Ihr das wisst und danach handelt – Ihr könnt nur siegen, wenn Ihr zwei, fünf, zehn Jahre danach handelt und Euch, Mann für Mann, Gruppe für Gruppe, von Stadt zu Stadt, von Provinz zu Provinz, im ganzen Reich endlich, als Partei, als Union, als Betriebsräte, als Masse, als Klasse daran gewöhnt und schliesslich durch die endlose Übung und den endlosen Kampf und die Niederlagen soweit kommt, dass Ihr, in Eurer grossen Mehrheit, das könnt, und endlich, durch diese Schule gegangen, als eine geschlossene Masse dasteht.

Aber diese Genossen, die linken, die KAPD, würden einen grossen Fehler begangen haben, wenn sie dies nur gepredigt und propagiert hätten. Hier, und hier fast noch mehr als bei den Gewerkschaften, weil es hier die ganze, die politische Frage betrifft, bedarf es an erster Stelle des Kampfes und des Beispiels, des Vorangehens.

Und darum hatten die Genossen der KAPD das Recht, das grösste, weil von der Geschichte geforderte Recht, sich, als der Spartakusbund – oder besser die Spartakus-Zentrale – diese ihre Propaganda nicht ertragen wollte, sich sofort von ihm abzuschneiden, ihn zu spalten. Denn für das deutsche Sklavenvolk, und für alle westeuropäischen Arbeiter, war an erster und höchster Stelle ein Beispiel nötig. Es musste in diesem Volk von politischen Sklaven und in dieser unterworfenen westeuropäischen Welt eine Gruppe sein, die ein Beispiel war von freien Kämpfern ohne Führer, d. h. ohne Führer, wie sie früher waren. Ohne Parlamentsmitglieder.

Und dies wieder nicht, weil das so schön oder so gut oder heroisch oder sonst etwas ist, sondern weil das deutsche und westeuropäische arbeitende Volk in diesem fürchterlichen Kampfe allein steht, keine Hilfe von anderen Klassen zu erwarten hat, Führerklugheit hier nicht mehr hilft, sondern nur ein Ding hilft, der Wille und die Entschlossenheit der Masse, Mann für Mann, Frau für Frau, und als Ganzes.

Wegen dieser höheren Ursache, und weil das Umgekehrte dieser Taktik, das Mittun im Parlament, für diese höhere Sache nur Schaden bringen kann, unendlich gross im Vergleich mit dem kleinen Vorteil, den es bringt (die Propaganda von der Parlamentstribüne), wegen dieser höheren Ursache verwirft die Linke den Parlamentarismus.

Sie sagen, dass Genosse Liebknecht, wenn er noch lebte, im Reichstag wundervoll arbeiten könnte. Das verneinen wir. Politisch manövrieren würde er dort nicht können, weil alle gross- und kleinbürgerlichen Parteien uns geschlossen gegenüberstehen. Und die Arbeiter gewinnen könnte er dort nicht besser als ausserhalb des Parlaments. Umgekehrt würde ein sehr grosser Teil der Massen es auf seine Reden ankommen lassen, und seine Anwesenheit im Parlament also schädlich sein. (5).

Freilich wird eine solche Arbeit der "Linken" Jahre dauern, und Leute, die aus irgendwelchen Ursachen gerne sofort Erfolge, grosse Ziffern, grosse Mitglieder- und Stimmenzahlen, grosse Parteien und eine mächtige (scheinbar mächtige!) Internationale sehen möchten, werden etwas lange warten müssen. Aber diejenigen, die verstehen, dass der Sieg der deutschen und westeuropäischen Revolution nur kommen kann, wenn eine sehr grosse Zahl, wenn die Masse der Arbeiter auf sich selbst vertraut, werden mit dieser Taktik zufrieden sein.

Sie ist in Deutschland und in Westeuropa die einzig gute. Das gilt auch besonders für England.

Genosse, kennen Sie den bürgerlichen Individualismus Englands, seine bürgerliche Freiheit, seine parlamentarische Demokratie, wie sie seit sechs oder sieben Jahrhunderten geworden sind? Kennen Sie sie wirklich? So unendlich verschieden von den Zuständen bei Euch? Wissen Sie, wie tief diese Ideen in allen, auch den proletarischen Individuen Englands und seiner Kolonien gewurzelt sind? Kennen Sie ihren zu einem gewaltigen Ganzen gewachsenen Bau? Ihre allgemeine Geltung? Im gesellschaftlichen und persönlichen Leben? Ich glaube, kein Russe, kein Osteuropäer kennt sie. Wenn Sie sie kennen, dann würden Sie jauchzen über diejenigen englischen Arbeiter, die mit diesem grössten politischen Gebilde des ganzen Kapitalismus, der ganzen Weit, völlig brechen.

Dazu gehört, wenn das mit vollem Bewusstsein geschieht, ein revolutionärer Sinn, nicht geringer als der derjenigen, die einmal als erste mit dem Zarismus brachen. Dies Brechen mit der ganzen englischen Demokratie bedeutet im Keime schon die englische Revolution.

Und das geschieht, wie das in England mit seiner gewaltigen Geschichte und Tradition und Kraft geschehen muss, mit der äussersten Entschlossenheit. Weil das englische Proletariat die gewaltigste Kraft hat (es ist potentiell das mächtigste der Erde), tritt es plötzlich gegen die mächtigste Bourgeoisie der Erde auf in all seiner Kraft, und verwirft, obschon die Revolution noch nicht da ist in seinem Lande, mit einem Schlag die ganze englische Demokratie.

Das tat ihre Vorhut, die Linke, ganz wie die deutsche Vorhut, die KAPD. Und warum tat sie das? Weil sie weiss, dass auch sie allein steht, dass keine Klasse in ganz England ihr hilft und dass das Proletariat selbst an erster Stelle, und nicht Führer, dort kämpfen und siegen sollen. (6).

Das englische Proletariat zeigt in dieser Vorhut, wie es kämpfen will: allein und gegen alle Klassen Englands und seine Kolonien.

Und wieder ganz wie das deutsche: dadurch, dass es ein Beispiel gibt. Dadurch, dass es eine kommunistische Partei gründet, die den Parlamentarismus verwirft und der ganzen Klasse in England zuruft: Brecht mit dem Parlament, dem Sinnbild der kapitalistischen Macht. Bildet eure eigene Partei und eure eigenen Betriebsorganisationen. Stützt euch allein auf euch selbst.

Das musste so gehen in England, Genosse, das musste so doch endlich kommen. Dieser Stolz und Mut, aus dem grössten Kapitalismus geboren. Nun es endlich kommt, kommt es auf einmal ganz.

Es war ein historischer Tag, Genosse, als da an diesem Junitag in London die erste kommunistische Partei gegründet wurde und sie die ganze siebenhundertjährige Verfassung und Staatseinrichtung verwarf. Ich möchte wohl, dass Marx und Engels dabei gewesen wären. Ich glaube, dass sie eine grosse, übergrosse Freude gehabt haben würden, wenn sie diese englischen Arbeiter sahen, die den englischen Staat, das Muster und Beispiel für alle bürgerlichen Staaten der Welt, seit Jahrhunderten der Mittelpunkt und das Bollwerk des Weltkapitalismus, den Beherrscher eines Drittels der Menschheit, diesen Staat und sein Parlament, wenn auch nur erst theoretisch, verwarfen.

Für diese Taktik besteht in England desto mehr Ursache, weil der englische Kapitalismus den Kapitalismus aller anderen Länder unterstützen und sich gewiss nicht scheuen wird, aus allen Teilen der Welt Hilfstruppen gegen jedes fremde wie gegen sein eigenes Proletariat zu entbieten. Der Kampf des englischen Proletariats ist darum ein Kampf gegen das Weltkapital. Desto mehr Ursache, dass der englische Kommunismus das höchste und hellste Beispiel gibt. Dass er musterhaft für das Proletariat der Welt kämpft, dass er es durch sein Beispiel stärkt. (7).

So soll es überall und immer eine Gruppe geben, die alle Konsequenzen zieht. Solche Gruppen sind das Salz der Menschheit.

Aber hier muss ich jetzt, nachdem ich theoretisch den Antiparlamentarismus verteidigt habe, im einzelnen auf Ihre Verteidigung des Parlamentarismus eingehen.

Sie verteidigen ihn (von Seite 36 bis 68) für England und Deutschland. Die Argumentation passt aber nur für Russland (und im besten Fall für einige andere osteuropäische Länder), nicht für Westeuropa. Dort liegt, wie ich schon sagte, Ihr Fehler. Dadurch werden Sie aus einem marxistischen Führer zu einem opportunistischen. Dadurch *fallen Sie, der marxistische radikale Führer für Russland und, wahrscheinlich, für einige osteuropäische Länder, in den Opportunismus für Westeuropa. Und Ihre Taktik würde, wenn sie hier angenommen würde, den ganzen Westen ins Verderben stürzen. Dies werde ich jetzt gegen Ihre Argumentation im einzelnen beweisen.

Genosse, als ich Ihre Beweisführung las, von Seite 36 bis 68, da kam mir fortwährend eine Erinnerung.

Ich dachte, ich sässe wieder auf einem Kongress der alten holländischen sozial-patriotischen Partei und hörte einer Rede Troelstras zu. Wenn er die grossen Vorzüge der reformistischen Politik den Arbeitern ausmalte. Wenn er sprach von den Arbeitern, die noch nicht sozialdemokratisch waren und die von uns durch Kompromisse gewonnen werden sollten. Wenn er sprach von den Bündnissen, die geschlossen werden konnten (vorübergehend natürlich) mit den Parteien dieser Arbeiter, von den "Rissen" in und zwischen den bürgerlichen Parteien, die wir ausnützen sollten. Ganz so, fast, nein ganz wörtlich, sprechen Sie, Genosse Lenin, für uns Westeuropäer!!

Und ich erinnere mich, wie wir da hinten sassen, wir marxistischen Genossen, ganz hinten im: Saale, nur ein paar Mann stark, vier oder fünf. Henriette Roland Holst, Pannekoek, noch ein paar. Troelstra machte das ganz wie Sie – hinreissend, überzeugend. Und ich erinnere mich, wie mitten im Donner des Beifalls, mitten in den glänzenden reformistischen Ausführungen und den Beschimpfungen der Marxisten, die Arbeiter im Saale sich umschauten nach den "Idioten" und "Eseln" und "kindischen Narren", wie Toelstra uns – fast ganz wie Sie – nannte. So wird es wahrscheinlich auf dem Kongress der Internationale in Moskau gewesen sein, als Sie gegen die "linken" Marxisten sprachen. Und er sprach – ganz wie Sie, Genosse – so überzeugend, so, innerhalb seiner Methode, logisch – dass ich selbst bisweilen dachte, ja, er hat recht.

Ich musste meistens das Wort führen für die Opposition (in den Jahren bis 1909, als wir hinausgeworfen wurden). Aber wissen Sie, was ich dann immer dachte, als ich ihn hörte und an mir selbst zu zweifeln begann? Ich hatte ein Mittel, das nie fehlte. Es war ein Satz aus dem Parteiprogramm: Du sollst immer so handeln und reden, dass das Klassenbewusstsein der Arbeiter dadurch geweckt und verstärkt wird. Ich fragte mich: Wird durch das, was der Mann dort sagt, das Klassenbewusstsein der Arbeiter gestärkt oder nicht? Und dann wusste ich immer sofort, dass das nicht der Fall war und dass ich also recht hatte.

Ganz so ging es mir beim Lesen Ihrer Broschüre. Ich höre Ihre opportunistischen Argumente für das Mittun mit den nicht kommunistischen Parteien, mit den bürgerlichen, für Kompromisse. Ich werde hingerissen. Es scheint alles so glänzend, licht und schön. Auch so logisch in Ihrer Methode. Aber dann denke ich wieder, wie damals, nur einen Satz, den ich mir seit einiger Zeit für die Kämpfe gegen die kommunistischen Opportunisten ausgedacht habe. Es ist dieser: Ist, was der Genosse dort sagt, so, dass es den Willen der Massen zur Tat, zur Revolution, zur wirklichen Revolution in Westeuropa antreibt, ja oder nein? Und dann sagen, über Ihre Broschüre, mein Kopf und mein Herz zu gleicher Zeit: Nein. – Und dann weiss ich sofort, Genosse Lenin, so sicher wie ein Mann nur etwas wissen kann, dass Sie unrecht haben.

ich kann dies Mittel den Genossen der Linken empfehlen. Wenn Ihr, Genossen, in den schweren Kämpfen, die uns gegen die opportunistischen Kommunisten in allen Ländern bevorstehen (hier in Holland wüten sie schon seit drei Jahren), wissen wollt, ob und warum ihr recht habt, so fragt euch das!

Sie gebrauchen in Ihrem Kampf gegen uns, Genosse Lenin, nur drei Argumente, die immer, entweder gesondert oder durcheinander, in Ihrer ganzen Broschüre wiederkehren.

Es sind dies:

1. Der Vorteil der Propaganda im Parlament für die Gewinnung der Arbeiter und der kleinbürgerlichen Elemente.

2. Der Vorteil der parlamentarischen Aktion für die Ausnützung der "Risse" zwischen den Parteien und für die Kompromisse mit einigen von ihnen.

3. Das Beispiel Russlands, wo diese Propaganda und Kompromisse so ausgezeichnet gewirkt haben.

Weitere Argumente haben Sie nicht. Ich werde sie jetzt der Reihe nach beantworten.

Zunächst das erste Argument, die Propaganda im Parlament. Dies Argument ist von ganz geringer Bedeutung. Denn die nicht kommunistischen Arbeiter, d. h. die sozialdemokratischen, christlichen und anderen bürgerlich denkenden, hören aus ihren Zeitungen von unseren Parlamentsreden gewöhnlich nichts. Oft werden diese Reden noch ganz entstellt. Wir erreichen sie also mit diesen Reden nicht. Wir erreichen sie nur durch unsere Versammlungen, Broschüren, Zeitungen.

Wir – ich spreche öfter im Namen der KAPD – erreichen sie aber (in der Zeit der Revolution, über diese sprechen wir) besonders durch die Tat. In allen grösseren Städten und Dörfern sehen sie uns handeln. Unsere Streiks, Strassenkämpfe, unsere Räte. Sie hören unsere Losungen. Sie sehen uns vorangehen. Das ist die beste Propaganda, diese überzeugt am meisten. Diese Tat geschieht aber nicht im Parlament.

Die noch nicht kommunistischen Arbeiter, kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Elemente werden also ganz gut erreicht, auch ohne parlamentarische Aktion.

Hier muss besonders eine Stelle aus der Broschüre "Kinderkrankheit" widerlegt werden, die ganz deutlich zeigt, wohin der Opportunismus Sie, Genosse, schon führt.

Auf Seite 52 sagen Sie, dass die Tatsache, dass die deutschen Arbeiter in Massen zur Unabhängigen Partei gehen und nicht zur Kommunistischen, auf das nicht-parlamentarische Auftreten der Kommunisten zurückzuführen ist. Also die Masse der Berliner Arbeiter z. B. wäre durch den Tod unserer Genossen Liebknecht und Rosa Luxemburg, durch die zielbewussten Streiks und Strassenkämpfe der Kommunisten fast überzeugt. Es fehlte nur noch die Rede des Genossen Levi im Parlament! Wenn dieser die Rede doch gehalten hätte, wären sie zu uns und nicht zu den zweideutigen Unabhängigen gegangen!! Nein, Genosse, dies ist nicht wahr, sie sind erst zu den Zweideutigen gegangen, weil sie die Revolution, die eindeutige, noch fürchteten. Weil der Übergang der Sklaverei zur Freiheit über das Zaudern geht.

Seien Sie vorsichtig, Genosse, Sie sehen, wohin der Opportunismus Sie schon führt.

Ihr erstes Argument hat keine Bedeutung.

Und wenn wir bedenken, dass das Mittun im Parlament (in der Revolution in Deutschland und England und in ganz Westeuropa) jene Idee bei den Arbeitern stärkt, dass ihre Führer die Arbeit wohl tun werden, und jene Idee schwächt, dass sie alles selbst ausführen müssen, sehen wir, dass dies Argument nicht nur nichts gutes bedeutet, sondern sehr schädlich ist.

Das zweite Argument Der Vorteil der parlamentarischen Aktion (in den revolutionären Zeiten) für die Ausnützung der Risse zwischen den Parteien und für die Kompromisse mit einigen von ihnen.

Um dieses Argument (besonders für England und Deutschland, aber auch für ganz Westeuropa) zu widerlegen, muss ich etwas ausführlicher sein als beim ersten. Es fällt mir schwer, dies gegen Sie tun zu müssen, Genosse Lenin. Diese ganze Frage des revolutionären Opportunismus (denn es ist jetzt nicht mehr der reformistische, sondern der revolutionäre Opportunismus) im Kommunismus ist aber für uns in Westeuropa eine Lebensfrage. Buchstäblich eine Frage von Leben und Tod. Die Sache selbst, die Widerlegung, ist leicht. Hundertmal haben wir dies Argument, wenn Troelstra, Henderson, Bernstein, Legien, Renaudel, Van der Velde usw., kurz, alle Sozialpatrioten, es gebrauchten, widerlegt. Ja, Kautsky, als er noch Kautsky war, hat es widerlegt. Es war das grösste Argument der Reformisten. Nie hatten wir erwartet, es gegen Sie tun zu müssen. Jetzt müssen wir es tun. Wohlan!

Der Vorteil der parlamentarischen Ausnützung der "Risse" ist darum so unbedeutend, weil die "Risse" seit einigen Jahren, Jahrzehnten, so unbedeutend sind. Zwischen den grossbürgerlichen Parteien, zwischen den grossbürgerlichen und den kleinbürgerlichen Parteien. In Westeuropa, in Deutschland und England. Das datiert nicht von der Revolution. Das war schon viel früher, in der Zeit der langsamen Entwicklung so. Alle Parteien, auch die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen, standen schon seit langem gegen die Arbeiter, und zwischen ihnen selbst war der Unterschied in Fragen, die die Arbeiter betreffen (und dadurch auch in fast allen anderen), sehr gering geworden, oft ganz verschwunden.

Dies steht fest, theoretisch und praktisch. In Westeuropa, in Deutschland und England.

Theoretisch, weil das Kapital sich konzentriert hat in Banken, Trusts und Monopolen. In gewaltiger Weise.

Weil in Westeuropa, und besonders in England und Deutschland, diese Banken, Trusts und Kartelle fast das ganze Kapital in sich aufgenommen haben, in Industrie, Handel, Verkehr und sogar auch schon grösstenteils in der Landwirtschaft. Dadurch ist die ganze In dustrie, auch die kleine, der ganze Verkehr, auch der kleine, und der grösste Teil der Landwirtschaft, auch der kleinen, vom Grosskapital ganz und gar abhängig geworden. Sie sind mit dem Grosskapital eins geworden.

Genosse Lenin sagt, dass der kleine Handel, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft schwanken zwischen Kapital und Arbeitern. Das ist falsch. Das war so in Russland und, früher, auch hier. In Westeuropa, in Deutschland und England, hängen sie jetzt so sehr, so völlig vom Grosskapital ab, dass sie nicht mehr schwanken. Der kleine Ladenbesitzer, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann sind ganz in der Macht der Trusts, der Monopole, der Banken. Diese liefern ihnen Waren und Kredit. Und sogar der kleine Bauer hängt, durch seine Kooperative und Hypotheken, vom Trust, vom Monopol und von den Banken ab.

Genosse, dieser Teil meiner Beweisführung, der Beweisführung der "Linken", ist der allerwichtigste. Von ihm hängt die ganze Taktik für Europa und Amerika ab.

Genosse, aus welchen Teilen bestehen diese niedrigen, dem Proletariat am nächsten stehenden Schichten? Aus Ladenbesitzern, Handwerkern, niedrigen Beamten und Angestellten und aus armen Bauern. Untersuchen wir also diese in Westeuropa ! – Kommen Sie mit mir, Genosse, nicht nur in einen grossen – dort ist das Abhängigsein vom Grosskapital selbstverständlich –, sondern in einen kleinen Laden in Westeuropa, in einem armen Proletarierviertel. Schauen Sie um sich! Was sehen Sie? Alle, fast alle diese Waren, Kleidung, Lebensmittel, Geräte, Brennstoff usw., sind Produkte nicht nur der Grossindustrie, sondern sehr oft von Trusts. Und das ist so nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande. Die kleinen Ladenbesitzer sind zum übergrossen Teil schon Lagerhalter des Grosskapitals. Das heisst also des Bankkapitals, denn dieses beherrscht die grossen Fabriken, die Trusts.

Sehen Sie in eine Werkstatt eines kleinen Handwerkers, in einer Stadt oder auf dem Lande, das ist gleich! Seine Rohstoffe, die Metalle, das Leder, das Holz usw., kommen vom Grosskapital, oft schon von den Monopolen, d. h. also von den Banken. Und wo die Lieferanten dieser Waren noch kleinere Kapitalisten sind, da hängen diese doch ab vom Bankkapital.

Und die niedrigen Angestellten und Beamten? Sie stehen zum grössten Teil in Westeuropa im Dienst des Grosskapitals und des vom Grosskapital ganz abhängigen Staates und der Gemeinden, also letzten Endes auch schon der Banken. Der Prozentsatz der dem Proletariat am nächsten stehenden Angestellten und Beamten, die vom Grosskapital direkt oder indirekt abhängig sind, ist in Westeuropa sehr gross, in Deutschland und England, wie auch in den Vereinigten Staaten und englischen Kolonien, enorm.

Und die Interessen dieser Schichten sind also mit den Interessen des Grosskapitals, d. h. also der Banken, verknüpft.

Ober die armen Bauern sprach ich schon, und wir sahen, dass sie für den Kommunismus vorläufig nicht zu gewinnen sind, ausser wegen der dort genannten Ursachen teilweise auch, weil sie für ihre Geräte, Waren und Hypotheken vom Grosskapital abhängen.

Was ergibt sich hieraus, Genosse?

Dass die moderne westeuropäische (und amerikanische) Gesellschaft und der Staat ein grosses, organisiertes, bis in seine äussersten Glieder und Zweige organisiertes Ganzes geworden sind, das ganz vom Bankkapital beherrscht, in Bewegung gebracht und geregelt wird. Dass die Gesellschaft hier ein geordneter Körper ist, kapitalistisch geordnet, aber doch geordnet. Dass das Bankkapital das Blut dieses Körpers ist, das durch den ganzen Körper fliesst und alle Zweige nährt. Dass dieser Körper eine ist und dass das Kapital den ganzen Körper gewaltig stark macht, und dass daher alle Glieder bis zu seinem wirklichen Ende zu ihm halten werden. – Nur nicht das Proletariat, das das Blut, den Mehrwert, schafft.

Durch diese Abhängigkeit aller Klassen vom Bankkapital und durch die gewaltige Kraft des Bankkapitals stehen alle Klassen der Revolution feindlich gegenüber, und dadurch steht auch das Proletariat allein.

Und da das Bankkapital die geschmeidigste und am meisten elastische Kraft der Welt ist und durch seinen Kredit seine Macht noch vertausendfacht, darum hält es den Kapitalismus, die kapitalistische Gesellschaft und den kapitalistischen Staat zusammen und instand, auch noch nach diesem fürchterlichen Kriege, nach dem Verlust von tausenden Milliarden, und inmitten eines Zustandes, der uns schon als sein Bankrott erscheint.

Und dadurch hält es alle Klassen, das Proletariat ausgenommen, mit noch grösserer Gewalt um sich zusammen und macht alle Klassen dem Proletariat gegenüber zu einem Ganzen. Und diese Kraft und Geschmeidigkeit und dieses Zusammenhalten aller Klauen sind so gross, dass sie noch sehr lange, nachdem die Revolution ausbrach, bleiben werden.

Gewiss, das Kapital ist fürchterlich geschwächt. Die Krise kommt und mit ihr die Revolution. Und ich glaube, dass diese Sieger wird. Aber es gibt zwei Ursachen, die den Kapitalismus immer noch sehr kräftig halten. Sie sind die geistige Sklaverei der Massen und das Bankkapital.

Auf die Kraft dieser beiden muss unsere Taktik also eingestellt sein. Und es gibt noch eine Ursache, wodurch das organisierte Bankkapital alle Klassen der Revolution gegenüber zusammenhält. Dies ist die grosse Zahl der Proletarier. Alle Klassen fühlen, dass, wenn sie die Arbeiter (in Deutschland fast 20 Millionen) nur dazu bringen können, 10, 12, 14 Stunden pro Tag zu arbeiten, die Rettung aus der Krise noch möglich sein würde. Auch darum stehen sie zusammen.

Dies ist der ökonomische Zustand Westeuropas.

In Russland hatte das Bankkapital diese Kraft noch nicht, und dadurch hielten die bürgerlichen und niedrigeren Klassen nicht zusammen. Und dadurch waren wirkliche Risse zwischen ihnen. Und dadurch stand das Proletariat dort nicht allein.

Diese ökonomischen Ursachen bestimmen die Politik. Durch diese Ursachen stimmen diese Klassen in Westeuropa bei den Wahlen, abhängige Sklaven wie sie sind, für ihre Herren, für diese grossbürgerlichen Parteien und gehören zu den grossbürgerlichen Parteien. Eigene Parteien haben diese kleinen Leute in Deutschland und England und Westeuropa fast nicht.

Dies alles war schon so sehr stark vor der Revolution und vor dem Kriege. Der Krieg hat diese Tendenz in riesenhaftem Maasse gestärkt. Durch den Nationalismus und Chauvinismus. Aber besonders durch die riesenhafte Trustifizierung aller ökonomischen Kräfte. Die Revolution aber hat diese Tendenz: Zusammenschluss aller bürgerlichen Parteien und Anschluss aller kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Elemente an die grossbürgerlichen, noch wieder ungeheuer verstärkt.

Nicht umsonst ist die russische Revolution da! Man weiss jetzt überall, was man zu erwarten hat.

Die Grossbürger und Grossbauern, der Mittelstand und die Mittelbauern, die niedrigen bürgerlichen und bäuerlichen Schichten sind also in Westeuropa, und besonders in Deutschland und England, durch das Monopol, die Banken, die Trusts, den Imperialismus, durch den Krieg, durch die Revolution gegen die Arbeiter und stehen alle darin zusammen.(8). Und weil die Arbeiterfrage alles beherrscht, stehen sie in allen Fragen zusammen.

Genosse, hier muss ich wieder dieselbe Bemerkung machen, die ich schon bei der Bauernfrage (im ersten Kapitel) machte. Ich weiss ganz gut, dass nicht Sie, sondern die kleinen Geister in unserer Partei, die die Kraft nicht haben, um die Taktik auf die grossen allgemeinen Linien zu stützen, und die sie darum stützen auf die kleinen besonderen, dass diese kleinen Geister die Aufmerksamkeit auf diejenigen Teile dieser Schichten richten werden, die noch nicht im Banne des Grosskapitals stehen.

Ich verneine nicht, dass es solche Teile gibt, aber ich sage, dass die allgemeine Wahrheit, die allgemeine Tendenz in Westeuropa ist, dass sie im Banne des Grosskapitals stehen. Und auf dieser allgemeinen Wahrheit soll unsere Taktik begründet sein !

Auch verneine ich nicht, dass es noch Risse geben kann. Ich sage nur, dass die allgemeine Tendenz ist und noch lange während der Revolution bleiben wird: Zusammenschluss dieser Klassen. Und ich sage, dass es für die Arbeiter, in Westeuropa, besser ist, ihre Aufmerksamkeit zu richten auf den Zusammenschluss als auf die Risse. Denn sie selbst müssen an erster Stelle hier die Revolution machen – und nicht ihre Führer, ihre Parlamentsmitglieder.

Auch sage ich nicht, was die kleinen Geister aus meinen Worten machen werden, dass die wirklichen Interessen dieser Klassen dieselben sind wie diejenigen des Grosskapitals. Ich weiss schon, dass sie vom Grosskapital unterdrückt werden.

Was ich sage, ist nur dies:

Noch fester als früher halten diese Klassen mit dem Grosskapital zusammen, weil sie jetzt auch die Gefahr der proletarischen Revolution vor sich sehen.

Die Herrschaft des Kapitals bedeutet für sie in Westeuropa eine gewisse Lebenssicherheit, die Möglichkeit oder wenigstens den Glauben daran, weiterzukommen, ihre Lage zu verbessern. Jetzt bedroht sie das Chaos und die Revolution, die zuerst ein noch schlimmeres Chaos bedeutet. Daher stehen sie an der Seite des Kapitals in dem Versuch, das Chaos mit allen Mitteln zu beheben, die Produktion wieder zu retten, die Arbeiter zu langer Arbeitszeit und geduldiger Entbehrung zu treiben. Die proletarische Revolution in Westeuropa ist für sie der Sturz und der Zusammenbruch aller Ordnung, aller, wenn auch dürftigen, Lebensordnung. Daher stehen sie alle zum Grosskapital und werden noch lange, auch während der Revolution, zu ihm stehen.

Denn schliesslich muss ich noch bemerken, dass ich hier wieder spreche für die Taktik am Anfang und im Laufe der Revolution. Ich weiss, dass ganz am Ende der Revolution, wenn der Sieg nah, der Kapitalismus erschüttert ist, diese Klassen zu uns kommen werden. Aber wir haben unsere Taktik nicht für das Ende, sondern für den Anfang und den Gang der Revolution zu bestimmen.

Theoretisch also musste das alles so sein. Theoretisch mussten diese Klassen zusammenhalten. Theoretisch steht das fest. Aber nicht weniger praktisch auch.

Dies werde ich jetzt zeigen:

Schon seit Jahren tut die ganze Bourgeoisie, tun alle bürgerlichen Parteien in Westeuropa, auch diejenigen, zu denen die Kleinbürger und Kleinbauern gehören, nichts mehr für die Arbeiter. Und sie waren alle Feinde der Arbeiterbewegung, für den Imperialismus, für den Krieg.

Es gab, seit Jahren schon, keine einzige Partei in England, in Deutschland, in Westeuropa, die die Arbeiter unterstützte. Alle waren ihnen feindlich. (9) In allen Dingen.

Arbeitergesetzgebung gab es nicht mehr. Sie wurde verschlechtert. Gesetze gegen das Streiken waren erlassen. Immer höhere Steuern wurden auferlegt.

Imperialismus, Kolonialsystem, Marinismus und Militarismus wurden von allen bürgerlichen, auch den kleinbürgerlichen, Parteien unterstützt. Der Unterschied zwischen Liberal und Klerikal, Konservativ und Fortschrittler, Grossbürger und Kleinbürger verschwand.

Alles, was die Sozialpatrioten, die Reformisten, sagten, vom Unter schied zwischen den Parteien, von den "Rissen" zwischen ihnen – von Ihnen, Genosse Lenin, jetzt aufgewärmt – war Schwindel. In allen Ländern Westeuropas. Am besten zeigte sich das im Juli und August 1914.

Damals waren sie alle einig. Und in der Praxis sind sie, durch die Revolution, noch viel mehr eins geworden. Gegen die Revolution, und dadurch im Grund gegen alle Arbeiter, denn nur diese kann allen Arbeitern wirkliche Verbesserung bringen –, gegen die Revolution stehen alle Parteien ohne einen "Riss".

Und da, durch den Krieg, die Krise und die Revolution, alle praktischen sozialen und politischen Fragen mit der Frage der Revolution zusammenhängen, so stehen diese Klassen schliesslich in allen Fragen zusammen und in allen Fragen dem Proletariat gegenüber in Westeuropa.

Kurz, der Trust, das Monopol, die grosse Bank, der Imperialismus der Krieg, die Revolution haben auch praktisch alle gross- und kleinbürgerlichen und alle bäuerlichen Klassen in Westeuropa zusammengeschweisst zu einer Masse gegen die Arbeiter. (10).

Theoretisch und praktisch also steht das fest. Es gibt in der Revolution in Westeuropa und besonders in England und Deutschland, keine einigermaassen bedeutenden "Risse" zwischen diesen Klassen.

Hier muss ich wieder etwas Persönliches hinzufügen. Auf Seite 40 und 41 kritisieren Sie das Amsterdamer Büro. Sie zitieren eine These des Büros. Beiläufig: Was Sie darüber sagen, ist alles unrichtig. Aber Sie sagen auch, dass die Amsterdamer Kommission die Pflicht hatte, bevor sie den Parlamentarismus verurteilte, eine Analyse der Klassenverhältnisse und der politischen Parteien zu geben, die diese Verurteilung rechtfertigte. Verzeihen Sie, Genosse, das war nicht Pflicht der Kommission. Denn dasjenige, worauf ihre These sich stützt, nämlich, dass alle bürgerlichen Parteien im Parlament und draussen einige Gegner der Arbeiter schon lange waren und jetzt sind und keine "Risse" zeigten, das war eine schon lange bewiesene und von den Marxisten allgemein angenommene Sache. Wenigstens in Westeuropa. Das hatten wir also nicht zu analysieren.

Umgekehrt: Auf Ihnen ruhte die Pflicht, da Sie Kompromisse und Bündnisse wollen im Parlament mit politischen Parteien und uns damit zum Opportunismus bringen wollen, auf Ihnen ruhte die Pflicht, die Beweislast, zu zeigen, dass es bedeutende "Risse" zwischen den bürgerlichen Parteien gibt.

Sie wollen uns in Westeuropa zu Kompromissen führen. Das, was Troelstra, Henderson, Scheidemann, Turati usw. in der Zeit der Evolution nicht konnten, das wollen Sie in der Zeit der Revolution. Sie haben zu beweisen, dass dies möglich ist.

Und dies nicht mit russischen Beweisen – denn wahrhaftig, diese sind leicht genug! –, sondern mit westeuropäischen. Diese Pflicht haben Sie auf die allerjämmerlichste Weise erfüllt. Kein Wunder, da Sie fast nur Ihre russische Erfahrung nahmen, die eines sehr rückständigen Landes, nicht die moderne westeuropäische.

Ich finde im ganzen Büchleih, das gerade dies zum Inhalt hat, diese Fragen der Taktik – die russischen Beispiele ausgenommen, zu welchen ich bald übergehe –, nur zwei Beispiele aus Westeuropa: den Kapp-Putsch in Deutschland und die Regierung von Lloyd George Churchill mit der Opposition von Asquith in England.

Sehr wenige und allerjämmerlichste Beispiele, in der Tat, dass es wirkliche "Risse" gibt zwischen den bürgerlichen und in diesem Falle auch sozialdemokratischen Parteien!

Wenn es je eines Beweises bedurfte, dass es zwischen den bürgerlichen (und in diesem Fall auch sozialdemokratischen) Parteien, den Arbeitern gegenüber, in der Revolution, in Westeuropa, keine bedeutenden Risse gibt, dann war der Kapp-Putsch der Beweis, Die Kappisten straften nicht, töteten nicht und nahmen nicht gefangen die Demokraten, die Zentrumleute und die Sozialdemokraten! Und, als diese wieder an die Macht kamen, straften sie nicht, töteten sie nicht und nahmen sie nicht gefangen die Kappisten. Aber beide Parteien töteten die Kommunisten!

Der Kommunismus war noch zu schwach. Darum machten sie zusammen noch keine Diktatur. Das nächste Mal, wenn der Kommunismus stärker ist, machen sie zusammen eine Diktatur.

Es war und ist Ihre Pflicht, Genosse, zu zeigen, wie die Kommunisten den Riss (!) damals hätten ausnützen können im Parlament. Natürlich so, dass es den Arbeitern zum Vorteil war. Es war und ist Ihre Pflicht, zu zeigen, was die kommunistischen Abgeordneten hätten sagen sollen, um diesen Riss den Arbeitern zu zeigen und ihn zu gebrauchen. Natürlich so, dass die bürgerlichen Parteien dadurch nicht verstärkt würden. Sie können das nicht, weil es zwischen diesen Parteien keinen bedeutenden Riss gibt in der Revolution. Und darüber sprechen wir. Und es war und ist Ihre Pflicht, zu zeigen, dass wenn es dann in besonderen Fällen solche Risse gibt, es vorteilhafter wäre, die Aufmerksamkeit der Arbeiter darauf zu lenken als auf die allgemeine Tendenz zum Zusammenschluss.

Und es war und ist Ihre Pflicht, Genosse, bevor Sie uns in Westeuropa führen, zu zeigen, wo in England, Deutschland und Westeuropa diese Risse sind.

Auch das können Sie nicht. Sie sprechen von einem Riss zwischen Churchill, Lloyd George und Asquith, den die Arbeiter gebrauchen sollen. Das ist geradezu jämmerlich. Darüber will ich mit Ihnen nicht einmal reden. Denn jeder weiss, dass, seitdem in England das industrielle Proletariat einige Macht hat, diese Risse von den bürgerlichen Parteien und Führern selbst künstlich gemacht worden sind und gemacht werden, um die Arbeiter zu betrügen, sie von der einen Seite zur anderen, von der anderen zur einen zu locken, ad infinitum, und so sie für ewig schwach und unselbständig zu halten. Dazu nehmen sie sogar oft in eine Regierung drei Gegner (!) auf: Lloyd George und Churchill. Und auf diese fast hundertjährige Falle geht der Genosse Lenin ein! Er will die englischen Arbeiter überreden, ihre Politik auf diesen Betrug zu stützen! In der Zeit der Revolution! Die Churchill, Asquith und Lloyd George werden sich gegen die Revolution einigen, und dann werden Sie, Genosse, das englische Proletariat mit einer Illusion betrogen und geschwächt haben. Sie hatten die Pflicht, Genosse, nicht mit allgemeinen schönen und glänzenden Redensarten (wie Sie das in Ihrem ganzen letzten Kapitel tun, z. B. Seite 72), sondern genau, konkret, mit sehr genauen und deutlichen Beispielen, Tatsachen, zu zeigen, welche dann die Konflikte und Differenzen nicht russische und auch nicht unbedeutende oder künstlich gemachte, sondern wirkliche, bedeutende, westeuropäische – sind. Das tun Sie in Ihrer Broschüre nirgends. Solange Sie sie nicht geben, glauben wir Ihnen nicht. Wenn Sie sie geben, werden wir Ihnen antworten. Solange sagen wir: Es sind Illusionen, die die Arbeiter nur betrügen und zu einer falschen Taktik führen. – Die Wahrheit ist, Genosse, dass Sie, fälschlich, die westeuropäische Revolution der russischen gleichstellen. Und wodurch? Dadurch, dass Sie vergessen, dass es in den modernen, d. h. westeuropäischen (und nordamerikanischen) Staaten eine Macht gibt, die über den verschiedenen Arten von Kapitalisten – den Landeigentümern, den Industriellen und den Kaufleuten steht: das Bankkapital. Diese Macht, die identisch ist mit dem Imperialismus, vereinigt alle Kapitalisten und mit ihnen auch die Kleinbürger und Bauern.

Es bleibt Ihnen aber noch eines übrig. Sie sagen: Es gibt Risse zwischen Arbeiterparteien und den bürgerlichen. Und diese können wir ausnützen. Das ist richtig.

Freilich muss man sagen, dass diese Unterschiede zwischen Sozialdemokraten und Bürgerlichen im Kriege und in der Revolution ganz gering gewesen und gewöhnlich verschwunden sind!! Aber sie können und könnten doch da sein. Und sie können vielleicht noch entstehen. Also darüber müssen wir sprechen. Besonders da Sie die englische "reine" Arbeiterregierung, Thomas, Henderson, Clynes usw., in England gegen Sylvia Pankhurst und die mögliche "reine" sozialistische Regierung von Ebert, Scheidemann, Noske, Hilferding, Crispien, Cohn gegen die KAPD anführen. (11).

Sie sagen, dass Ihre Taktik, die die Arbeiter auf diese Arbeiterregierungen hinweist und sie antreibt, sie bilden zu helfen, die klare, die vorteilhafte, die unsere aber, die sie nicht bilden will, die schädliche ist.

Nein, Genosse, unser Standpunkt gegenüber diesen Fällen einer "reinen" Arbeiterregierung, wo der Riss zwischen diesen Arbeiterparteien und den bürgerlichen eine Spalte wird, ist wieder ganz klar und der Revolution vorteilhaft.

Die Möglichkeit ist da, dass wir so eine Regierung bestehen lassen. Sie kann notwendig, sie kann ein Fortschritt der Bewegung sein. Wenn dem so ist, wenn wir noch nicht weitergehen können, dann werden wir sie bestehen lassen, sie so scharf wie möglich kritisieren und sie durch eine kommunistische ersetzen, so bald wir können. Aber im Parlament und durch Wahlen dazu mitwirken, dass sie kommt, das werden wir, in der Revolution, in Westeuropa, nicht.

Und mitwirken werden wir nicht, weil in Westeuropa und in der Revolution die Arbeiter ganz allein stehen. Darum hängt hier alles, verstehen Sie, alles von ihrem Willen zur Tat, von ihrer Klarheit des Kopfes ab. Und weil Ihre Taktik, das Kompromisseln mit den Scheidemännern und Hendersons, mit den Crispiens und einigen Ihrer eigenen Anhänger – nennen Sie nur einen englischen Independenten oder opportunistischen Kommunisten des Spartakusbundes oder der BSP –, weil diese Ihre Taktik innerhalb und ausserhalb des Parlaments die Köpfe – hier in Westeuropa und in der Revolution verwirrt, weil sie die Arbeiter jemanden wählen lässt, von dem sie im voraus wissen, dass er ein Betrüger ist, während unsere Taktik sie klar macht, weil sie den Feind zeigt als Feind, darum wählen wir, sogar wenn wir in illegalen Zeiten darum eine Vertretung im Parlament verlieren müssen, und sogar wenn wir dadurch einmal einen "Riss" (im Parlament!!) nicht gebrauchen könnten, in Westeuropa, in unseren Umständen, unsere Taktik und verwerfen die Ihrige.

Ihr Rat ist auch hier wieder einer, der Unklarheit bringt und Illusionen weckt.

Aber dann die Mitglieder der sozialdemokratischen Parteien, der Unabhängigen, der Labour Party, der Independent Party? Diese müssen doch gewonnen werden?

Diese, die Arbeiter und die kleinbürgerlichen Elemente dieser Parteien, gewinnen wir, die Linke – in Westeuropa –, durch unsere Propaganda, unsere Versammlungen und Presse und besonders durch unser Beispiel, unsere Losung, unsere Tat in den Betrieben. In der Revolution. Diejenigen, die auf diese Weise, durch unsere Presse, durch die Tat, durch die Revolution nicht gewonnen werden, sind doch verloren und können zum Teufel gehen. Diese Sozialdemokraten, Unabhängigen, Arbeiter– und dergleichen Parteien in England und Deutschland bestehen aus Arbeitern und Kleinbürgern. Die ersten, die Arbeiter, können wir alle auf die Dauer gewinnen. Von den Kleinbürgern nur wenige, und sie sind, anders als die Kleinbauern, ökonomisch nicht sehr wichtig; diese wenigen kommen durch unsere Propaganda usw. zu uns. Die meisten – auf diese stützen sich besonders Noske und Konsorten – gehören zum Kapitalismus und scharen sich, je weiter die Revolution fortschreitet, um so mehr bis ans Ende um Ihn.

Aber, weil wir sie bei den Wahlen nicht unterstützen, sind wir darum von Arbeiterparteien, den Unabhängigen, den Sozialdemokraten, der Labour Party usw. abgeschnitten, ihnen feindlich? Im Gegenteil, wir suchen die Verbindungen mit ihnen, so viel wie möglich. Bei jeder Gelegenheit rufen wir sie zur gemeinsamen Aktion auf: zum Streik, zum Boykott, zum Aufstand, zum Strassenkampf und besonders zu den Arbeiterräten, zu den Betriebsräten. Wir suchen sie überall. Nur nicht mehr wie früher im Parlament. Sondern in der Werkstatt, in den Vereinen und auf der Strasse. Dort sind sie jetzt zu finden. Dort werden wir sie gewinnen. Das ist die neue Praxis, die der sozialdemokratischen folgt. Die kommunistische.

Sie, Genosse, wollen die Sozialdemokraten, Unabhängigen usw. ins Parlament und an die Regierung bringen, um zu zeigen, dass sie Betrüger sind. Sie wollen das Parlament gebrauchen, um zu zeigen, dass es nichts hilft.

Sie suchen die Arbeiter auf schlaue Art zu überlisten. Sie bringen sie in den Strick und lassen sie hängen. Wir helfen ihnen den Strick zu vermeiden. Wir tun dies, weil wir es hier können. Sie verfolgen die Taktik der Bauernvölker, wir die der industriellen. Dies ist kein Hohn und kein Spott. Ich glaube, dass der Weg bei Ihnen richtig war. Nur sollen Sie – weder in dieser kleinen Frage noch in den grossen der Gewerkschaften und des Parlamentarismus – uns nicht aufzwingen, was in Russland gut, aber hier verderblich ist.

Schliesslich muss ich noch eine Bemerkung machen: Sie sagen, und Sie haben dies öfters verteidigt, dass die Revolution in Westeuropa nur anfangen kann, nachdem diese niedrigen, dem Proletariat nahestehenden Klassen genügend erschüttert, neutralisiert oder gewonnen sind. Da ich nun gezeigt habe, dass sie nicht am Anfang der Revolution erschüttert, neutralisiert oder gewonnen werden können, so wäre, wenn Ihre Behauptung wahr wäre, die Revolution unmöglich. Diese Bemerkung wurde mir schon oft von Ihrer Seite, u. a. vom Genossen Sinowjew, gemacht. Aber glücklicherweise ist auch hier diese Ihre Behauptung, in dieser so äusserst wichtigen Frage, die über die Revolution entscheidet, falsch. Und auch diese beweist wieder, dass Sie alles nur vom osteuropäischen Standpunkt aus sehen. Dies werde ich im letzten Kapitel zeigen.

Hiermit habe ich, glaube, ich, bewiesen, dass Ihr zweites Argument für den Parlamentarismus zum übergrossen Teil opportunistischer Betrug ist und dass auch in dieser Hinsicht der Parlamentarismus jetzt durch eine andere Kampfesweise ersetzt werden soll, die nicht dessen Nachteile, sondern grössere Vorteile hat.

Ich gebe zu: In diesem Punkte kann Ihre Taktik einige Vorteile haben. Die Arbeiterregierung kann etwas Gutes, auch grössere Klarheit bringen. Auch in illegaler Zeit kann Ihre Taktik vorteilhaft sein. Wir erkennen das an. Aber gleich, wie wir früher zu den Revisionisten und Reformisten sagten: Wir stellen die Entwicklung des Selbstbewusstseins der Arbeiter über alles, sogar über kleinere Vorteile, so sagen wir jetzt zu Ihnen, Lenin, und Ihren "Rechten" Genossen: Wir stellen über alles das Wachsen der Massen Im Willen zur Tat. Wie seinerzeit zu jenem, so soll jetzt in Westeuropa zu diesem alles dienen. – Wir werden sehen, wer recht hat, die Linke oder Lenin. Ich zweifle keinen Augenblick. Wir werden Sie, wie Troelstra, Henderson, Renaudel und Legien, besiegen.

Ich komme jetzt zu Ihrem dritten Argument: den russischen Beispielen. Sie nennen sie wiederholt (auf Seite 1-97 kommen sie fortwährend vor). Ich habe sie mit der grössten Aufmerksamkeit gelesen, und wie ich sie früher schon bewunderte, bewundere ich sie jetzt. Immer stand ich mit Ihnen, von 1903 ab. Auch als ich Ihre Motive noch gar nicht kannte – die Verbindungen waren doch abgeschnitten –, wie beim Frieden von Brest-Litowsk, verteidigte ich Sie mit Ihren Motiven. Ihre Taktik war gewiss glänzend für Russland, und die Russen haben durch diese Taktik den Sieg errungen. Aber was beweist das für Westeuropa? Nach meinem Urteil nichts oder sehr wenig. Die Sowjets, die Diktatur des Proletariats, die Mittel zur Revolution und zum Aufbau nehmen wir an. Auch Ihre ausländische Taktik war – wenigstens bis jetzt – ein Beispiel für uns. Aber anders steht es mit Ihrer Taktik für die westeuropäischen Länder. Und das ist ganz natürlich.

Wie könnte die Taktik in Ost- und Westeuropa dieselbe sein? Russland, ein Land mit bei weitem überwiegender Landwirtschaft, aber mit einem industriellen Kapitalismus, der nur teilweise hochentwickelt war, und, im Vergleich zum Lande, nur sehr klein. Und zu einem sehr grossen Teil noch vom ausländischen Kapital genährt! In Westeuropa, und besonders in Deutschland und England, ist es gerade umgekehrt. – Bei Ihnen: Noch alle altmodischen Formen des Kapitals, vom Wucherkapital hinauf. Bei uns: Fast nur hochentwickeltes Bankkapital. Bei Ihnen: Gewaltige Reste der Feudalund Vorfeudalzeit und sogar aus der Zeit des Stammes und der Barbarei. Bei uns, besonders in England und Deutschland: Alles, Landwirtschaft, Handel, Verkehr, Industrie, im Banne des allerhöchst entwickelten Kapitalismus. Bei Ihnen enorme Reste der Leibeigenschaft, die armen Bauern und auf dem Lande ein versunkener Mittelstand. Bei uns sogar die armen Bauern noch in Verbindung mit der modernen Produktion, Verkehr, Technik und Tausch. In der Stadt und auf dem Lande der Mittelstand, auch der niedrigste, in direkter Verbindung mit den Grosskapitalisten. Sie haben noch Klassen, mit welchen das emporkommende Proletariat sich verbinden kann. Das Dasein dieser Klassen allein hilft schon. Dasselbe gilt natürlich von den politischen Parteien. Bei uns nichts von alledem.

Natürlich war darum das Kompromisseln, das Paktieren, nach allen Richtungen, wie Sie das so packend beschreiben, das Gebrauch machen von den Rissen, sogar zwischen den Liberalen und den Grundbesitzern, bei Ihnen gut. Bei uns ist es unmöglich. – Daher der Unterschied in der Taktik, im Osten und im Westen. Unsere Taktik passt sich unseren Verhältnissen an. Sie ist hier gleich gut wie die Ihrige in Ihren Verhältnissen.

Ich finde Ihre russischen Beispiele besonders auf Seite 12, 13, 26, 27, 37, 40, 51 und 52. Aber was auch diese Beispiele für die russische Gewerkschaftsfrage bedeuten (Seite 27), für die westeuropäische bedeuten sie nichts, da das Proletariat hier viel stärkere Waffen braucht. Was den Parlamentarismus betrifft, Ihre Beispiele sind entweder einer Zeit entnommen, wo die Revolution nicht da war (z. B. Seite 16, 26, 41, 51), und diese gelten also für die Frage, die wir hier behandeln, nicht, oder sie sind, da Sie die Parteien der armen Bauern und Kleinbürger gebrauchen, konnten, so verschieden von unseren Verhältnissen (Seite 12, 37, 40, 41, 51), dass sie für diese nichts bedeuten. (12).

Es kommt mir vor, Genosse, dass Ihr total falsches Urteil, die totale Falschheit Ihres Buches – und nicht weniger die mit Ihnen einverstandene Taktik der Exekutive in Moskau – nur daher rühren, dass Sie unsere Verhältnisse nicht genug kennen, oder besser gesagt, dass Sie aus Ihrer Kenntnis nicht die richtigen Folgerungen ziehen und sie zu sehr vom russischen Standpunkt beurteilen.

Das bedeutet aber – und es soll hier mit aller Schärfe wiederholt sein, denn das Wohl und Wehe des westeuropäischen Proletariats, des Weltproletariats, der Weltrevolution hängt hiervon ab –, dass weder Sie noch die Exekutive von Moskau, wenn Ihr bei dieser Taktik bleibt, imstande seid, die westeuropäische und dadurch die Weltrevolution zu führen.

Sie fragen: Könnt Ihr, die Ihr die Weit umformen wollt, nicht einmal eine Parlamentsfraktion formen?

Wir antworten: Dieses Buch von Ihnen selbst ist schon ein Beweis, dass, wer dies letztere versucht, sofort die Arbeiterbewegung auf falsche Wege, ins Verderben führt.

Das Buch spiegelt den Arbeitern von Westeuropa Illusionen, etwas Unmögliches vor: Kompromisse mit den Bürgerlichen in der Revolution.

Es gaukelt ihnen etwas nicht Bestehendes vor: dass die Bürgerlichen in Westeuropa in der Revolution gespalten sind. Es spiegelt ihnen vor, dass ein Kompromiss mit den Sozial-Patrioten und schwankenden (!) Elementen im Parlament hier Gutes bringen kann, während es fast nichts als Unheil bringt.

Ihr Buch ist das Zurückführen des westeuropäischen Proletariats in den Morast, aus dem es mit allergrösster Mühe nicht entkommen ist, sondern zu entkommen anfängt.

Es führt uns zurück in den Morast, in den Scheidemann, Clynes, Renaudel, Kautsky, MacDonald, Longuet, Vandervelde, Branting und Troelstra uns gebracht haben. (Es kann nichts anderes als grosse Freude bei diesen hervorbringen, wie auch bei den Bürgerlichen, wenn sie es verstehen.) Das Buch ist für das kommunistische revolutionäre Proletariat, was Bernsteins Buch für das vorrevolutionäre war. Es ist Ihr erstes nicht gutes Buch. Für Westeuropa ist es das schlechtest mögliche.

Wir, Genossen der "Linken", müssen uns fest zusammenschliessen, von unten alles zusammen anfangen und die schärfste Kritik üben an allen, die in der dritten Internationale den richtigen Weg nicht gehen. (13).

Wenn ich jetzt aus allen diesen Ausführungen über den Parlamentarismus den Schluss ziehe, so muss er also lauten: Ihre drei Argumente für den Parlamentarismus bedeuten entweder sehr wenig oder sie sind falsch. Und ganz wie in der Gewerkschaftsfrage ist Ihre Taktik auch in diesem Punkte unheilvoll für das Proletariat.


(1) Im Anfang hielt Ich diese Frage für eine untergeordnete. Die Haltung des Spartakusbundes beim Kapp-Putsch und Ihre opportunistische, auch in dieser Frage opportunistische, Broschüre haben mich aber überzeugt, dass sie eine höchst wichtige ist.

(2) Anton Pannekoek, Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik des Kommunismus (a. a. 0.), S. 91 (Hrg.).

(3) Dieser grosse Einfluss, diese ganze Ideologie des Westens von Europa, der Vereinigten Staaten und der englischen Kolonien wird in Osteuropa, in der Türkei, auf dem Balkan usw. (um von Asien usw. zu schweigen) nicht verstanden.

(4) Anton Pannekoek, Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik des Kommunismus (a. a. 0.), S. 91-92 (Hrg.).

(5) Das Beispiel des Genossen Liebknecht beweist eben die Richtigkeit unserer Taktik. Vor der Revolution, als der Imperialismus auf dem Gipfel der Macht stand und durch das Kriegsgesetz alle Regungen unterdrückte, konnte er durch seine Proteste im Parlament eine gewaltige Kraft ausüben; in der Revolution aber nicht mehr. Sobald also die Arbeiter ihr Geschick in die eigene Hand genommen haben, müssen wir den Parlamentarismus fahren lassen.

(6) Zwar hat England keine armen Bauern, die du Kapital unterstützen könnten. Es hat dafür aber eine um so grössere, mit dem Kapitalismus verbundene Mittelklasse.

(7) Es besteht In England, mehr noch als anderswo, immer die grösste Gefahr des Opportunismus. So scheint auch unsere Genossin Sylvia Pankhurst, die durch Temperament, Instinkt und Erfahrung, aber vielleicht nicht so sehr durch tiefes Studium, also durch Zufall, eine so gute Vorkämpferin des linken Kommunismus war, Ihre Meinungen geändert zu haben. Den Antiparlamentarismus und damit den Angelpunkt Ihres Kampfes gegen den Opportunismus gibt sie auf, um des unmittelbaren Vorteils der Einheit zu willen. Damit geht sie den Weg, den Tausende von englischen Arbeiterführern vor Ihr gegangen sind: zur Unterwerfung unter den Opportunismus mit allen seinen Folgen und schliesslich unter die Bourgeoisie. Dies ist nicht verwunderlich. – Aber dass Sie, Genosse Lenin, sie dazu geführt, dazu überredet haben, sie, die einzige furchtloser konsequente Führerin In England, das ist ein Schlag für die russische, für die Weltrevolution.

(8) Wahr ist, dass durch den Krieg die Proletarisierung enorme Fortschritte gemacht hat. Aber alles (so gut wie alles) was nicht proletarisch Ist, hält sich krampfhaft am Kapitalismus, verteidigt ihn, wenn so sein muss, mit Waffen, und ist dem Kommunismus feindlich.

(9) Ich habe keinen Raum, dies hier in Einzelheiten zu beweisen. in einer Broschüre "Die Grundlagen des Kommunismus" habe ich dies ausführlich getan.

(10) Wir Holländer wissen das genau. Wir haben vor unseren Augen in unserem kleinen aber, durch seine Kolonien, hoch imperialistischen Lande, die "Risse" verschwinden sehen. Demokratische Parteien, christliche oder andere, gibt es bei uns nicht mehr. Sogar die Holländer können hierüber besser urteilen als ein Russe, der, leider, Westeuropa nach Russland zu beurteilen scheint.

(11) Es Ist noch die Frage, ob diese "reinen" Arbeiterregierungen hier kommen werden. Sie essen sich vielleicht auch hier wieder durch das russische Beispiel (Kerenski) irreführen. im Folgenden werde ich zeigen, warum in diesem Falle in den Märztagen in Deutschland diese "reine" sozialistische Regierung doch nicht unterstützt werden musste

(12) Die Behandlung aller dieser russischen Beispiele würde zu eintönig werden. Ich ersuche die Leser, sie alle nachzulesen. Sie werden sehen, dass das oben Gesagte richtig ist.

(13) Persönlich glaube ich, dass In Ländern, wo die Revolution noch nicht nahe Ist und die Arbeiter noch nicht kräftig genug sind, sie zu machen, der Parlamentarismus noch gebraucht werden kann. Die schärfste Kontrolle und Kritik der Parlamentsdelegierten Ist dann notwendig. – Andere Genossen sind, glaube Ich, anderer Meinung.