1. Einleitung
Lieber Genosse Lenin!
Ich habe Ihre Broschüre über den Radikalismus in der Kommunistischen Bewegung gelesen. Ich habe daraus, wie aus allen Ihren Schriften, viel gelernt. Ich bin Ihnen, wie gewiss viele andere Genossen, dankbar dafür. Manche Spur und manchen Keim dieser Kinderkrankheit, die auch in mir ohne Zweifel haust, hat sie vertrieben und wird sie gewiss noch vertreiben. Auch was Sie über die Verwirrung sagen, die durch die Revolution in vielen Köpfen verursacht worden ist, ist ganz richtig. Ich weiss das. Die Revolution kam so plötzlich und so ganz anders als wir erwarteten. Und Ihre Schrift wird mir ein neuer Antrieb sein, um wieder, noch mehr als früher, mein Urteil in allen Fragen der Taktik, auch in der Revolution, abhängig zu machen nur von der Realität, von den wirklichen Klassenverhältnissen, wie sie sich politisch und ökonomisch offenbaren.
Als ich Ihre Broschüre gelesen hatte, dachte ich: Das ist alles richtig. Als ich mich dann aber hinsetzte und lange Zeit darüber nachgedacht hatte, ob ich nun diese "Linke" nicht mehr unterstützen und keine Artikel für die KAPD und die oppositionelle Partei in England mehr schreiben sollte, da musste ich dies ablehnen.
Dies scheint sich zu widersprechen. Aber es wird dadurch verursacht, Genosse, dass Ihr Ausgangspunkt in der Broschüre nicht richtig ist. Sie urteilen, wie ich glaube, nicht richtig über die Übereinstimmung der westeuropäischen Revolution mit der russischen, über die Bedingungen der westeuropäischen Revolution, d.h. über die Klassenverhältnisse - dadurch beurteilen Sie den Grund, aus dem die Linke, die Opposition hervorkommt, verkehrt. - Daher scheint die Broschüre richtig, wenn man Ihren Ausgangspunkt annimmt; verwirft man diesen (wie man es tun muss), dann ist die ganze Broschüre falsch. Da alle Ihre unrichtigen, teilweise unrichtigen und teilweise gewiss ganz falschen Urteile zusammenkommen zu Ihrer Verurteilung der linken Bewegung, besonders in Deutschland und England, und da ich, trotzdem ich nicht in allen Punkten einverstanden bin mit dieser Bewegung, wie die Führer wissen, doch fest entschlossen bin, sie zu verteidigen, glaube ich am besten zu tun, Ihre Schrift mit einer Verteidigung der Linken zu beantworten. Dies wird mir Gelegenheit geben, nicht nur den Grund zu zeigen, woraus sie entsteht, ihr Recht und ihre Vorzüge jetzt und hier in Westeuropa, in diesem Stadium, zu beweisen, sondern auch, und dies ist vielleicht gleich wichtig, die verkehrten Vorstellungen, die besonders in Russland über die westeuropäische Revolution herrschen, zu bekämpfen. Beides ist wichtig, da sowohl die westeuropäische wie auch die russische Taktik abhängt von der Vorstellung der westeuropäischen Revolution.
Gerne hätte ich dies auf dem Moskauer Kongress getan, ich war aber nicht imstande zu kommen.
An erster Stelle muss ich zwei Ihrer Bemerkungen widerlegen, die das Urteil der Genossen und Leser fälschen können. Sie schreiben mit Hohn und Spott über den lächerlichen und kindischen Unsinn des Kampfes in Deutschland, über "Diktatur der Führer oder der Massen", "oben oder unten" usw. Dass dies keine Fragen sein sollen, damit sind wir ganz einverstanden. Mit dem Hohn aber nicht. Denn leider sind es in Westeuropa noch Fragen. Wir haben nämlich in Westeuropa in vielen Ländern noch Führer, wie sie in der zweiten Internationale waren, wir suchen noch die richtigen Führer, die nicht über die Massen herrschen wollen und die sie nicht verraten, und solange wir diese nicht haben, wollen wir alles von unten auf und durch die Diktatur der Massen selber. Wenn ich einen Bergführer habe, und er führt mich in den Abgrund, so habe ich lieber keinen. Sobald wir die richtigen haben, werden wir dieses Suchen fahren lassen. Denn dann werden Masse und Führer wirklich eins sein. Das, und nichts anderes, meinen die deutsche und englische Linke und wir mit diesen Worten. (1)
Und dasselbe gilt für Ihre zweite Bemerkung, dass Führer mit Klasse und Masse ein einheitliches Ganzes sein sollen. Wir sind ganz mit Ihnen einverstanden. Nur gilt es, solche Führer zu finden, zu erziehen, die wirklich mit der Masse einig sind. Und sie finden und erziehen, das können die Massen, die politischen Parteien und die Gewerkschaften nur durch schwersten Kampf, auch nach innen. Dasselbe gilt von der eisernen Disziplin und der strengsten Zentralisation. Wir wollen sie schon, aber erst nachdem wir die richtigen Führer haben, nicht vorher. Auf diesen schwersten Kampf, der jetzt in Deutschland und England, als den der Verwirklichung des Kommunismus nächsten Ländern, schon mit der grössten Anstrengung geführt wird, kann Ihr Hohn nur nachteilig wirken. Sie arbeiten mit diesem Spott den opportunistischen Elementen der Dritten Internationale In die Hände. Denn es ist eins der Mittel, mit denen Elemente im Spartakusbund und in der BSP in England, und auch in den kommunistischen Parteien mancher anderen Länder, die Arbeiter betören, wenn sie sagen, dass die ganze Frage über Masse und Führer eine unsinnige Frage, "Unsinn und kindisch ist". Mit dieser Phrase vermeiden sie und wollen sie vermeiden, dass man sie selbst, die Führer, kritisiert. Mit dieser Phrase von eiserner Disziplin und Zentralisation zerschmettern sie die Opposition. Diesen opportunistischen Elementen arbeiten Sie in die Hände.
Das sollten Sie nicht tun, Genosse. Wir sind in Westeuropa noch im Vorstadium. Da sollte man lieber den Kämpfern als den Herrschern das Wort reden.
Dies aber hier nur beiläufig. Ich komme darauf im Laufe meines Schreibens noch zurück. Es liegt ein tieferer Grund vor, warum ich mit Ihrer Broschüre nicht einverstanden sein kann. Das ist der folgende:
Wenn wir westeuropäische Marxisten Ihre Broschüren, Aufsätze und Bücher lasen, dann gäb es mitten in der Bewunderung und der Zustimmung, die fast alles, was Sie schrieben, bei uns fand, doch immer einen Punkt, bei dem wir im Lesen plötzlich ganz vorsichtig wurden, über den wir nähere Aufklärung erwarteten, und den wir, wenn wir diese nicht fanden, auch nachher, nachdenkend, nur mit sehr grossem Vorbehalt annahmen. Es war dies dort, wo Sie sprachen über die Arbeiter und die armen Bauern. Sie tun das sehr, sehr oft. Und überall sprechen Sie von diesen beiden Kategorien als revolutionären Faktoren auf der ganzen Welt. Und nirgends, wenigstens soweit ich gelesen habe, betonen Sie klar und deutlich den sehr grossen Unterschied, der In dieser Frage zwischen Russland (und einigen osteuropäischen Ländern) und Westeuropa (d. h. Deutschland, Frankreich, England, Belgien, Holland, der Schweiz und den skandinavischen Ländern, vielleicht sogar Italien) besteht. Und doch liegt, meines Erachtens, der Grund der Differenz Ihrer Auffassung über die Taktik in den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Fragen und der der sogenannten Linken in Westeuropa im Unterschied zwischen Russland und Westeuropa in diesem Punkte.
Sie kennen natürlich so gut wie ich diesen Unterschied, aber Sie haben daraus nicht die Folgerungen für die Taktik in Westeuropa gezogen, wenigstens nicht, soweit ich Ihre Arbeiten gelesen habe. Sie haben diese Folgerungen ausser Betracht gelassen, und dadurch wird Ihr Urteil über diese westeuropäische Taktik ein falsches (2). Dies war und ist desto gefährlicher, weil überall in Westeuropa dieser Ihr Satz in allen kommunistischen Parteien gedankenlos nachgeplappert wird, sogar von Marxisten. Es erweckt sogar in allen kommunistischen Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren und in öffentlichen Veranstaltungen den Schein, als sei plötzlich eine Revolte der armen Bauern in Westeuropa nahe! Es wird nicht auf den grossen Unterschied zu Russland hingewiesen. Dadurch wird das Urteil, auch des Proletariats, gefälscht. Dadurch, dass Sie in Russland eine gewaltige Klasse von armen Bauern hatten und mit ihrer Hilfe siegten, stellen Sie es so vor, dass wir in Westeuropa auch diese Hilfe haben werden, Dadurch, dass Sie in Russland nur durch diese Hilfe siegten, stellen Sie es so vor, dass man hier auch durch diese Hilfe siegen wird. Durch Ihr Schweigen Über diese Frage, wie sie sich verhält in Westeuropa, stellen Sie es so vor, und Ihre ganze Taktik kommt hervor aus dieser Vorstellung.
Diese Vorstellung ist aber nicht die Wahrheit. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen Russland und Westeuropa. Im allgemeinen wird die Bedeutung der armen Bauern als revolutionärer Faktor immer kleiner. In Teilen Asiens, Chinas, Indiens, wäre diese Klasse, wenn dort Revolution ausbräche, absolut ausschlaggebend, in Russland bildet sie für die Revolution den unentbehrlichen, einen Hauptfaktor, in Polen und einigen Staaten des südöstlichen und Mitteleuropas ist sie für die Revolution noch bedeutend, aber je mehr man dann nach Westen geht, desto feindlicher steht sie der Revolution gegenüber.
Russland hatte ein industrielles Proletariat von 7 bis 8 Millionen. Aber die armen Bauern zählten zirka 25 Millionen. (Sie werden mir etwaige Fehler in den Zahlen verzeihen, denn ich muss aus dem Kopfe zitieren, weil dieses Schreiben Eile hat.) Als Kerenski diesen armen Bauern den Boden nicht gab, da wussten Sie, dass sie sehr bald zu Ihnen kommen müssten, sofort nachdem sie dies bemerkt haben würden. Das ist in Westeuropa nicht der Fall und wird auch nicht der Fall sein, eine solche Lage besteht in den westeuropäischen Ländern, die ich genannt habe, nicht.
Die Lage der armen Bauern in Westeuropa ist eine andere als die in Russland. Wenn auch oft schrecklich, ist sie nicht so schrecklich hier wie dort. Die armen Bauern haben als Pächter oder Eigentümer ein Stückchen Land. Durch die ausgezeichneten Verkehrsmittel können sie oft etwas verkaufen. Sie können sich im schlimmsten Fall oft selbst ernähren. Die letzten Jahrzehnte brachten ihnen etwas Besserung. Sie können jetzt, während und nach dem Krieg, hohe Preise fordern. Sie sind unentbehrlich, denn Lebensmittel werden nur sehr spärlich importiert. Sie werden also fortwährend hohe Preise machen können. Sie werden vom Kapitalismus unterstützt. Das Kapital wird sie oben halten, solange es selbst oben bleiben kann. Die Lage der armen Bauern bei Ihnen war viel entsetzlicher. Dadurch hatten bei Ihnen die armen Bauern auch ein politisches, revolutionäres Programm und waren in in einer politischen, revolutionären Partei organisiert: bei den Sozial-Revolutionären. Das sind sie hier nirgends. Ausserdem gab es in Russland eine enorme Menge Güter, die verteilt werden konnten, Grossgrundbesitz, Krongüter, Staatsländereien, Klostergüter. Was können aber die Kommunisten Westeuropas den armen Bauern bieten, um sie zur Revolution, um sie auf ihre Seite zu bringen?
Es gab in Deutschland (vor dem Krieg) vier bis fünf Millionen arme Bauern (bis 2 Hektar). In wirklichem Grossbetrieb (über 100 Hektar) waren nur acht bis neun Millionen Hektar. Wenn die Kommunisten diese alle verteilten, wären die armen Bauern noch immer arme Bauern, denn auch die sieben bis acht Millionen Landarbeiter wollen etwas haben. Aber sie können sie nicht einmal alle verteilen, denn sie werden sie selbst als Grossbetriebe brauchen (3).
Also die Kommunisten in Deutschland haben, einzelne relativ kleine Gegenden ausgenommen, nicht einmal ein Mittel, um die armen Bauern zu locken. Denn die Mittel- und kleinen Betriebe wird man doch gewiss nicht enteignen. Sehr ähnlich steht es mit den vier bis fünf Millionen französischen armen Bauern und ähnlich auch in der Schweiz, Belgien, Holland und zwei skandinavischen Ländern (4). Überall herrschen Klein- und Mittelbetriebe vor. Und sogar in Italien ist die Sache nicht ganz sicher. Ganz zu schweigen von England, wo es nur ein- bis zweihunderttausend arme Bauern gab.
Die Zahlen zeigen auch, dass arme Bauern in Westeuropa verhältnismässig sehr wenige sind. Dass also die Hilfstruppen, wenn sie da wären, nur gering sein würden.
Auch das Versprechen, dass sie unter dem Kommunismus keine Pacht und Hypothekenrente zu zahlen haben werden, kann sie nicht locken. Denn' mit dem Kommunismus sehen sie den Bürgerkrieg, Verschwinden der Märkte und Verwüstung kommen.
Die armen Bauern in Westeuropa werden also, wenn nicht eine Krise kommt, viel fürchterlicher noch als jetzt in Deutschland, eine Krise, die an Fürchterlichkeit alles je dagewesene übertrifft, zum Kapitalismus stehen, so lange dieser noch einigermaassen Leben hat (5).
Die Arbeiter in Westeuropa stehen ganz allein. Denn auch nur eine ganz dünne Schicht des niedrigen Mittelstandes wird ihnen helfen., Und diese ist ökonomisch unbedeutend. Die Arbeiter werden ganz allein die Revolution machen müssen. Das ist der grosse Unterschied zu Russland.
Vielleicht, Genosse Lenin, werden Sie sagen, dass dies auch in Russland der Fall war. Auch in Russland hat das Proletariat die Revolution allein gemacht. Erst nach der Revolution kamen die armen Bauern. Das ist wahr, aber der Unterschied bleibt ein gewaltiger.
Sie wussten, Genosse Lenin, dass die Bauern mit Sicherheit und schnell zu Ihnen kommen würden. Sie wussten, dass Kerenski ihnen den Boden weder geben wollte noch konnte. Sie wussten, dass sie Kerenski nicht lange helfen würden. Sie hatten ein Zaubermittel "Der Boden den Bauern", womit Sie sie sofort in einigen Monaten zum Proletariat bringen konnten. Wir dagegen sind sicher, dass sie vorläufig überall auf dem westeuropäischen Kontinent dem Kapitalismus helfen werden.
Vielleicht werden Sie sagen, dass zwar in Deutschland keine grosse Masse armer Bauern bereit steht zur Hilfe, dass aber die Millionen Proletarier, die jetzt noch zur Bourgeoisie halten, gewiss herüber kommen werden. Dass also die Stelle der russischen armen Bauern hier von Proletariern eingenommen werden wird. Dass also doch Hilfe kommt.
Auch diese Vorstellung ist in ihrem Wesen falsch. Der Unterschied zu Russland bleibt enorm.
Die russischen Bauern kamen nämlich nach dem Sieg über den Kapitalismus zum Proletariat. Aber wenn die deutschen Arbeiter, die jetzt noch zum Kapitalismus stehen, zum Kommunismus kommen, dann fängt der Kampf gegen den Kapitalismus erst recht an.
Dadurch, dass die armen Bauern da waren, dadurch, nur dadurch siegten die russischen Genossen. Und der Sieg wurde fest und stark, als sie hinüberkamen. Dadurch, dass die deutschen Arbeiter in den Reihen des Kapitalismus stehen, dadurch kommt der Sieg nicht, wird er auch nicht leicht, und wenn sie hinüberkommen, fängt der Kampf erst recht an. -
Die Revolution in Russland war während ihrer langjährigen Entwicklung schrecklich für das Proletariat. Und furchtbar ist sie jetzt, nachdem sie gesiegt hat. Aber sie war, als sie stattfand, leicht, eben durch die Bauern.
Bei uns ist das ganz anders, gerade umgekehrt. Vorher war sie leicht und nachher wird sie leicht sein. Aber sie selbst wird furchtbar sein. Wahrscheinlich furchtbarer als je eine Revolution. Denn der Kapitalismus, der bei Ihnen schwach war, und nur so ein bisschen oben auf den Feudalismus, das Mittelalter und sogar auf die Barbarei geklebt, ist bei uns stark, gewaltig organisiert und fest gewurzelt. Und die niedrigeren Mittelklassen und die kleinen und armen Bauern, die immer bei den Stärksten stehen, werden, mit Ausnahme einer dünnen, ökonomisch nicht bedeutenden Schicht, bis zum wirklichen Ende des Kapitalismus zu ihm halten.
Die Revolution in Russland siegte durch die Hilfe der armen Bauern. Das muss man hier, in Westeuropa und überall in der Welt, in Gedanken festhalten. Aber die Arbeiter in Westeuropa stehen allein, das muss man in Russland immer in Gedanken festhalten.
Das Proletariat in Westeuropa steht allein. Das ist die Wahrheit. Und darauf, auf dieser Wahrheit, muss unsere Taktik begründet sein. Jede Taktik, die darauf nicht begründet ist, ist falsch und führt das Proletariat zu gewaltigen Niederlagen.
Dass diese Behauptung die Wahrheit ist, wird auch durch die Praxis bewiesen. Denn nicht nur haben die westeuropäischen kleinen Bauern kein Programm, forderten sie nicht das Land, sondern auch jetzt, da der Kommunismus naht, regen sie sich nicht. Diese Behauptung soll aber natürlich nicht vollkommen absolut aufgefasst werden. Es gibt, wie ich schon sagte, Gegenden in Westeuropa, wo Grossgrundbesitz vorherrscht, und wo also die armen Bauern für den Kommunismus zu haben sind. Es gibt auch andere Gegenden, wo, durch die lokalen Verhältnisse usw., sie zu gewinnen sein werden. Aber diese Gegenden sind relativ gering. Und sie soll auch nicht bedeuten, dass ganz am Ende der Revolution, wenn alles zusammenfällt, keine armen Bauern zu uns kommen werden. Das ist unzweifelhaft. Darum müssen wir auch fortwährend Propaganda unter ihnen machen. Aber wir haben unsere Taktik zu bestimmen für den Anfang und für den Gang der Revolution. Was ich also sagte, ist die allgemeine Art, die allgemeine Tendenz der Verhältnisse. Und auf dieser allein kann und soll eine Taktik begründet sein (6).
Es folgt hieraus nun an erster Stelle - und es soll mit Nachdruck und klar und deutlich gesagt sein -, dass in Westeuropa die wirkliche Revolution, d. h. die Umwerfung des Kapitalismus und die Errichtung und dauerhafte Instandhaltung des Kommunismus, jetzt allein noch möglich ist in den Ländern, wo das Proletariat allein stark genug ist allen Klassen gegenüber, also in Deutschland und England, und, weil doch die Hilfe der armen Bauern möglich, in Italien. In den anderen Ländern ist nur die Vorbereitung der Revolution möglich. Durch Propaganda, Organisation und Kampf. Sie selbst kann nur stattfinden, nachdem die Wirtschaft so durch die Revolution in den grössten Staaten (Russland, Deutschland und England) erschüttert ist, dass die bürgerlichen Klassen genügend schwach geworden sind. Denn Sie werden mir doch gewiss zugeben, dass wir unsere Taktik nicht einstellen können auf Ereignisse, die vielleicht kommen, doch auch vielleicht ausbleiben werden (Hilfe der russischen Armeen, indischer Aufstand, furchtbare Krise, wie sie noch nie da war, usw.).
Dass Sie diese Wahrheit über die Bedeutung der armen Bauern also nicht eingesehen haben, das ist Ihr erster grosser Fehler, Genosse. Und gleichfalls der der Exekutive in Moskau und des internationalen Kongresses.
Was bedeutet nun weiterhin das Alleinstehen (so ganz anders als das russische Proletariat), das Keine-Aussicht-Haben auf Hilfe irgendwoher, von keiner anderen Klasse, in bezug auf die Taktik?
Es bedeutet erstens, dass die Forderungen, die hier an die Massen gestellt werden, noch viel grösser sind als in Russland. Dass also die Bedeutung der proletarischen Masse in der Revolution eine viel grössere ist. Und zweitens, dass die Bedeutung der Führer entsprechend kleiner ist.
Denn die russischen Massen, die Proletarier, hatten die Gewissheit, und sahen, schon im Kriege - teilweise vor ihren Augen -, dass die Bauern bald an ihrer Seite stehen würden. Die deutschen Proletarier, um nur erst von ihnen zu reden, wissen, dass sie den ganzen deutschen Kapitalismus mit allen Klassen gegen sich haben.
Wohl zählten die deutschen Proletarier vor dem Kriege schon 19 bis 20 Millionen wirklich Arbeitender bei einer Bevölkerung von 70 Millionen, aber sie stehen allen anderen Klassen gegenüber.
Sie stehen einem ungleich stärkeren Kapitalismus gegenüber als die Russen, unbewaffnet. Die Russen waren bewaffnet.
Die Revolution fordert also von jedem deutschen Proletarier, von jedem einzelnen, noch viel grösseren Mut und Opfersinn als von den russischen.
Das folgt aus den ökonomischen und Klassenverhältnissen Deutschlands und nicht aus irgend einer Theorie oder Einbildung von Revolutionsromantikern oder Intellektuellen!!
Wenn nicht die ganze Klasse oder wenigstens die übergrosse Mehrheit sich persönlich mit fast übermenschlicher Kraft für die Revolution gegen alle anderen Klassen einsetzt, dann siegt sie nicht. Denn Sie werden mir doch einmal zugeben, dass wir bei der Einstellung unserer Taktik auf unsere eigenen Kräfte rechnen müssen und nicht auf fremde, z. B. russische Hilfe.
Das Proletariat, fast unbewaffnet, allein, ohne Hilfe einem so einheitlichen Kapitalismus gegenüber, das bedeutet in Deutschland: jeder Proletarier, die grosse Mehrheit, ein bewusster Kämpfer, jeder Proletarier ein Held. - Und so ist es in ganz Westeuropa.
Die Mehrheit des Proletariats, die zu bewussten, fest entschlossenen Kämpfern wird, zu wirklichen Kommunisten, muss hier, absolut und relativ, grösser, viel grösser werden als in Russland.
Und wiederum: dies nicht infolge der Vorstellungen, der Träume eines Intellektuellen oder Poeten, sondern auf Grund reinster Realitäten.
Und wie die Bedeutung der Klasse steigt, so sinkt, relativ, die Bedeutung der Führer. Das will nicht sagen, dass wir nicht die allerbesten Führer haben sollen. Die allerbesten sind noch nicht gut genug, wir suchen sie gerade. Das will nur besagen, dass im Vergleiche mit der Bedeutung der Massen diejenige der Führer kleiner wird.
Wenn man, wie Sie, mit 7 oder 8 Millionen Proletariern ein Land von 160 Millionen gewinnen soll, ja, dann ist die Bedeutung der Führer enorm! Denn, um mit so wenigen so viele zu besiegen, da kommt es an erster Stelle auf die Taktik an. Wenn man, wie Sie, Genosse, mit einer so kleinen Schar, aber mit fremder Hilfe, ein so grosses Land gewinnt, dann kommt es an erster Stelle auf die Taktik des Führers an. Als Sie, Genosse Lenin, mit der kleinen Schar von Proletariern den Kampf begannen, da war es an erster Stelle Ihre Taktik, die im geeigneten Moment die Schlachten schlug und die armen Bauern gewann.
Aber in Deutschland? Da schafft die klügste Taktik, die grösste Klarheit, das Genie sogar des Führers nicht sehr viel, nicht das meiste. Unerbittlich stehen dort die Klassen einander gegenüber, eine gegen alle anderen. Die proletarische Klasse muss dort selbst entscheiden. Durch ihre Macht, durch ihre Zahl. Ihre Macht aber ist, da der Feind so gewaltig und so unendlich besser als das Proletariat organisiert und bewaffnet ist, besonders In Ihrer Qualität begründet.
Sie standen den russischen besitzenden Klassen gegenüber wie David dem Goliath. David war klein, aber er hatte eine Waffe, die todsicher war. Das deutsche, das englische, das westeuropäische Proletariat steht dem Kapitalismus gegenüber als Riese gegen Riese. Bei ihnen kommt es nur auf die Kraft an. Die Kraft des Körpers und besonders die des Geistes.
Haben Sie nicht bemerkt, Genosse Lenin, dass es in Deutschland keine "grossen" Führer gibt? Es sind alles ganz gewöhnliche Männer. Das deutet schon darauf hin, dass diese Revolution an erster Stelle das Werk der Massen, nicht der Führer sein soll.
Nach meiner Auffassung etwas Grossartiges, Grösseres, als je da war. Und ein Hinweis auf das, was der Kommunismus sein wird.
Und so, wie es in Deutschland ist, so ist es in ganz Westeuropa. Denn überall steht das Proletariat allein.
Die Revolution der Massen, der Arbeiter - einzig der Massen der Arbeiter zum ersten Male in der Weit.
Und dies nicht, weil es so gut oder so schön ist oder von jemandem erdacht, sondern weil es durch die ökonomischen' und Klassenverhältnisse so bedingt ist. (7)
Aus dieser Differenz zwischen Russland und Westeuropa folgt nun weiter:
1. Dass wenn Sie oder die Exekutive in Moskau oder die euch folgenden opportunistischen Kommunisten Westeuropas, des Spartakusbundes oder der englischen Kommunistischen Partei, sagen: Ein Kampf über die Frage Führer oder Masse ist Unsinn, dies nicht nur uns gegenüber deshalb falsch ist, weil wir noch die Führer suchen, sondern auch, weil diese Frage bei Ihnen eine ganz andere Bedeutung hat.
2. Dass, wenn Sie zu uns sagen: Führer und Masse sollen ein untrennbares Ganzes sein, dies nicht nur verkehrt ist, weil wir ja eine solche Einheit suchen, sondern auch, weil diese Frage bei uns eine andere Bedeutung hat als bei Ihnen.
3. Dass, wenn Ihr sagt: Es soll eine eisenstarke Disziplin und absolute militärische Zentralisation in der Kommunistischen Partei sein, dies nicht bloss verkehrt ist, weil wir eine eiserne Disziplin und starke Zentralisation suchen, sondern auch, weil diese Frage bei uns eine andere Bedeutung hat als bei Ihnen.
Es folgt daraus 4., dass, wenn Ihr sagt: Wir handelten so und so in Russland (zum Beispiel nach der Korniloff-Offensive oder sonst einer Episode), oder wir gingen damals in dieser oder jener Periode ins Parlament, oder wir blieben in den Gewerkschaften und deshalb soll das deutsche Proletariat auch so handeln, dass dies dann noch absolut nichts besagt, darum noch nicht zutreffend sein kann oder zu sein braucht. Denn die westeuropäischen Klassenverhältnisse im Kampf, in der Revolution, sind ganz andere als in Russland.
Und schliesslich folgt 5., dass, wenn Sie oder die Exekutive in Moskau oder die opportunistischen Kommunisten in Westeuropa uns eine Taktik aufzwingen wollen, die in Russland ganz richtig war - z. B. die darauf, bewusst oder unbewusst, berechnet ist und darauf, bewusst oder unbewusst, sich stützt, dass die armen Bauern oder andere werktätige Schichten hier bald mittun werden -, mit anderen Worten, dass das Proletariat nicht allein steht -, dass dann Eure Taktik, die Ihr vorschreibt oder die hier befolgt wird, das westeuropäische Proletariat ins Verderben und zu fürchterlichen Niederlagen führen wird.
Und schliesslich folgt hieraus 6., dass, wenn Sie oder die Exekutive in Moskau oder die opportunistischen Elemente in Westeuropa, wie die Zentrale des Spartakusbundes in Deutschland und die BSP in England, uns hier in Westeuropa zwingen wollen zu einer opportunistischen Taktik (der Opportunismus stützt sich immer auf fremde Elemente, die das Proletariat im Stich lassen!), Sie Unrecht haben.
Dies: das Alleinstehen, das keine Hilfe zu erwarten haben, die grössere Bedeutung der Masse also und die relativ kleinere der Führer - dies sind die allgemeinen Gründe, auf denen die westeuropäische Taktik sich gründen muss.
Diese wurden von Radek, als er in Deutschland war, von der Exekutive der Internationale in Moskau und von Ihnen, wie aus Ihren Worten erhellt, nicht gesehen.
Und auf diesen Gründen - dem Alleinstehen des Proletariats und der grösseren Bedeutung der Massen und der Individuen - beruht die Taktik der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands, der Kommunistischen Partei Sylvia Pankhursts (8) und der Mehrheit der Amsterdamer Kommission, so wie sie von Moskau ernannt war.
Aus diesen Gründen versuchen sie vor allem die Massen, als Ganzes und als Individuen, auf eine viel höhere Stufe zu bringen, sie, Person pro Person, zu revolutionären Kämpfern zu erziehen dadurch, dass sie ihnen deutlich machen (nicht allein durch die Theorie, sondern besonders durch die Praxis), dass auf sie alles ankommt, dass sie von fremder Hilfe anderer Klassen nichts, von Führern wenig, von sich selbst aber alles erwarten sollen.
Theoretisch also ist, abgesehen von privaten Auslassungen, kleineren Fragen und Auswüchsen, die, wie diejenige von Wolffheim und Laufenberg, im Anfang einer Bewegung unvermeidlich sind, die Auffassung dieser Parteien und Genossen ganz richtig und Ihre Bekämpfung durchaus falsch. (9)
Wenn man vom Osten Europas her nach Westen wandert, überschreitet man an einer gewissen Stelle eine ökonomische Grenze. Sie läuft von der Ostsee nach dem Mittelmeer, ungefähr von Danzig nach Venedig. Diese Linie scheidet zwei Welten voneinander. Denn westlich dieser Linie herrscht das Industrie-, Handels- und Finanzkapital, vereinigt im höchst entwickelten Bankkapital, fast absolut. Das landwirtschaftliche Kapital sogar ist diesem Kapital untergeordnet oder hat sich mit ihm schon verbinden müssen. Dieses Kapital ist in höchstem Maasse organisiert und faßt sich in die festesten Staatsregierungen der Weit zusammen.
Östlich dieser Linie besteht weder diese riesige Entwicklung des konzentrierten Industrie-, Handels-, Transport-, Bankkapitals, noch seine fast absolute Vorherrschaft, noch infolgedessen der festgefügte moderne Staat.
Es wäre schon in sich selbst ein Wunder, wenn die Taktik des revolutionären Proletariats westlich dieser Grenze dieselbe sein würde als die im Osten.
(1)
Anmerkung der Herausgeber: Die KAPD will allerdings noch mehr, sie verlangt In Immer steigendem Maasse das: Von unten auf.(2)
Sie schreiben z. B. in "Staat und Revolution" (S. 67): Die vorwiegende Majorität der Bauernschaft ist In jedem kapitalistischen Lande, das eine Bauernschaft überhaupt aufweist, von der Regierung unterdrückt und lechzt nach deren Sturz, nach einer wohlfeilen' Regierung. Das zu verwirklichen, ist allein das Proletariat berufen." . . . Die Schwierigkeit ist aber, dass die Bauernschaft nicht lechzt nach dem Kommunismus.(3)
Die agrarischen Thesen von Moskau geben dies zu.(4)
Für Schweden und Spanien habe Ich die statistischen Daten nicht(5)
In der Broschüre "Die Weltrevolution" habe Ich schon mit sehr grossem Nachdruck auf diesen Unterschied zwischen Russland und Westeuropa hingewiesen. Die Entwicklung der deutschen Revolution hat mich gelehrt, dass mein Urteil noch zu optimistisch war. In Italien werden die armen Bauern vielleicht mit dem Proletariat gehen.(6)
Sie, Genosse, werden gewiss nicht, wie die kleinen Geister, dadurch einen Kampf zu gewinnen suchen, dass Sie Behauptungen Ihres Gegners zu absolut auffassen. Meine obige Bemerkung ist daher nur für jene bestimmt.(7) Ich schweige hier ganz davon, dass durch dies andere Zahlenverhältnis (20 Millionen auf 70 Millionen in Deutschland!) die Bedeutung der Masse und der Führer und das Verhältnis von Masse, Partei und Führer auch im Gange und am Ende der Revolution hier andere sein werden als in Russland. Eine Besprechung dieser Frage, die an sich äusserst wichtig ist, würde mich jetzt zu weit führen.
(8)
Bis jetzt wenigstens.(9)
Es Ist mir aufgefallen, dass Sie bei Ihrer Bekämpfung fast immer von privaten, nicht von offiziellen gegnerischen Auffassungen Gebrauch machen.