Anton Pannekoek: Marx und die Gewerkschaften (1909)

Die Auseinandersetzungen der letzten Jahren zwischen Marxisten und Gewerkschaftsführern könnten den Anschein erwecken, als bestehe zwischen Marxismus und Gewerkschaftsbewegung ein tiefer Gegensatz, als stellen die Marxschen Theorie und die gewerkschaftliche Praxis zwei einander feindliche Richtungen in der Arbeiterbewegung dar. Eine solche Auffassung wäre aber grundfalsch. Im Gegenteil hat die Marxsche Theorie die allerhöchste Wichtigkeit für die Gewerkschaften; sie ist in gleich hohen Maase die Theorie des Gewerkschaftskampfes als sie eine Theorie der sozialistische Bewegung ist.

Marx hat erst durch seine ökonomische Theorie den Gewerkschaften eine richtige Theorie als Unterlage für ihre Praxis gegeben. Ihre Taktik beruht auf dieser Theorie, und eine andere Theorie muss notwendig zu einer anderen Taktik im Gewerkschaftskampfe führen,

Wo der Marxismus nicht durchgedrungen ist, herrscht die bürgerliche Auffassung der Gesellschaft, Die bürgerliche Theorie sieht in Arbeitern und Unternehmern nicht einander gegenüberstehende Klassen, sondern zusammenwirkende Assoziierte, die beide dasselbe Interesse an der Blüte des Betriebes haben und zusammen der Aussenwelt der Konsumenten und Konkurrenten gegenüberstehen. Mag dabei ein gelegentlicher Zank um die Teilung des gemeinsamen Arbeitsertrages vorkommen, Vertrag und Frieden bleiben das Normale, die Regel, und Gemeinsamkeit der Interessen bleibt die Grundlage. Diese Theorie, dass Arbeiter und Unternehmer zusammen den Ertrag des Betriebes teilen, findet ihre Praxis in der ‘gleitenden Lohnskale’, die die Arbeiter daran hindert in der Verbesserung ihrer Lebenshaltung stetig vorzudringen. Die bürgerlich-Ökonomische Lehre, dass der Preis durch den Lohn bestimmt wird, hat sogar dazu geführt, dem Lohnkampf jeden Nutzen abzusprechen, da jede Lohnerhöhung durch eine entsprechende Preiserhöhung aller Waren wettgemacht werde.

Demgegenüber hat Marx' Theorie den Arbeitern ihre wirkliche Lage als Ausgebeuteten des Kapitals kennen gelehrt. Das Kapital sucht seinen Profit durch Herunterdrückung des Lohnes zu vergrössern, und daher müssen umgekehrt die Arbeiter energisch für Erhöhung des Lohnes und Verringerung der Ausbeutung kämpfen. Das geht immer auf Kosten des Profits. Die gewerkschaftlichen Kampfe sind ein Kampf der Klassen, zwischen denen ein tiefer Interessengegensatz besteht. Die Marxsche Theorie ist daher eine Kampftheorie; sie treibt die Arbeiter zum unermüdeten Kampfe zur Verbesserung ihrer Lebenslage. Ihre Früchte sehen wir überall, wo eine starke sozialistische Bewegung sie zum Gemeingut der Massen gemacht hat, wie in Deutschland, in Österreich, in Schweden. Dagegen wird aus den Ländern, wo die bürgerliche Friedenstheorie vorherrscht, aus England und Amerika, wiederholt geklagt, dass es den Gewerkschaften an der richtigen Kampfeslust fehlt und dass sie bei einer anderen Taktik mehr erringen könnten. Wo nach der Marxschen Lehre die Gewerkschaftskämpfe als Klassenkampf aufgefasst und geführt werden, erzeugen sie in den Proletariat einen hohen Idealismus. Mit der bürgerlichen Theorie geht ein beschränkter Egoismus zusammen, der in Amerika sogar zu erschreckenden Fällen von Korruption der Gewerkschaftsbeamten geführt hat.

Die Marxsche Mehrwertlehre bildet also die theoretische Grundlage zu einer richtigen Gewerkschaftsbewegung. Zugleich weist die weitere Theorie der kapitalistischen Entwicklung die Gewerkschaften auf weitere Ziele hin. Sie dürfen sich nicht auf den blossen Lohnkampf beschränken, der seine Grenzen hat, sondern sie sollen zugleich die revolutionäre Umgestaltung dar Gesellschaft ins Auge fassen.

Marx hat zuerst die grosse revolutionäre Bedeutung der Gewerkschaften erkannt. Das bringt der realistische Charakter seiner Gesellschaftslehre von selbst mit sich. Zuvor glaubte man, an der Gesellschaft sei künstlich herumzumodeln; und die utopischen Sekten machten dazu bestimmte Vorschläge. Marx suchte die Elemente der Zukunft in das, was sich von selbst aus der Wirklichkeit entwickelte. Daher erkannte er den Wert der Gewerkschaften, der Koalitionen, die die Arbeiter sich instinktiv zum Kampfe gegen das Kapital schufen. Klein und machtlos, von den Politikern verachtet, von den Behörden als "Verschwörungen" verfolgt und bestraft, von den kleinbürgerlichen "Sozialisten" verhöhnt, fanden sie in Marx den Verteidiger, der ihre Bedeutung als notwendige Kampfesorganisationen und als Keime der Zukunftsgesellschaft hervorhob. Auf den letzten Seiten seiner Schrift "Das Elend der Philosophie" findet sich jene prachtvolle Stelle, in der er die Gewerkschaften als die natürliche Organisation der Arbeiter mit den freien Stadtgemeinden des Mittelalters vergleicht, worin die Bourgeoisie sich zuerst organisierte, um von dort aus später die ganze Gesellschaft zur Bourgeoisgesellschaft zu machen. Denselben Gedanken hat er nachher in der englischen Denkschrift zum Genfer Kongress der Internationale wiederholt.

Dieser Standpunkt, der notwendig zum Wesen der ganzen Marxschen Theorie gehört, ist seitdem der Standpunkt der Marxisten geblieben. Die besten Theoretiker des Marxismus haben aus ihrer Theorie heraus immer die Bedeutung der Gewerkschaften verteidigt und hervorgehoben und von dieser höheren Warte aus gegen die augenblicklich herrschenden Strömungen, die sie unterschätzten, ankämpfen müssen. Am klarsten tritt das in den Schriften Kautskys hervor. In 1689 veröffentlichte er als anfangender Schriftsteller in Richters Jahrbuch einen Aufsatz, worin er sich gegen die damalige hohe Wertschätzung der Staatsmonopole und der Produktivgenossenschaften wandte und die Wichtigkeit der Einrichtung betonte "welche, ohne sich auf Theorien zu stützen, naturgemäss dem Klassenkampf entsprossen ist, und überall ... das festeste Bindemittel der Arbeiterklasse bildet, die Gewerkschaften". "Die Gewerkschaften sind die Schule des Kommunismus. Die Gewerkschaften sind es daher, die wir mit aller Macht fördern müssen, nicht die Produktivgenossenschaften oder die Ausdehnung der staatlichen Monopole.”

Und in ähnlicher Weise trat er bei der Diskussion auf, die 1893 im der Partei über die Gewerkschaften stattfand. Die Krise hatte sie damals übel zugerichtet, innerer Hader zerfleischte ihre Reihen. Bebel sprach ihnen auf dem Kölner Parteitag eine bedeutungsvolle Zukunft ab: die Bewegung könne nicht gross werden; nur der politische Kampf könne helfen; "Aus ganz natürlichen und selbstverständlichen Ursachen wird den Gewerkschaften ein Lebensfaden nach dem anderen abgeschnitten”. Damit sprach Bebel nur die allgemeine Auffassung in der Partei aus, die zwar die Gewerkschaften mit aller Kraft unterstützen wollte, aber nicht viel von ihr erwartete. In dieser Zeit war es wieder der heute als Gewerkschaftsfeind verschriener Kautsky, der sie moralisch unter die Arme griff, in der Neuen Zeit gegen jene Auffassung polemisierte und — genau so wie heute auch - ihre steigende Kraft und Bedeutung betonte. Nicht weil er die bald nachher einsetzende Prosperität voraussehen konnte, welche den Gewerkschaften ihren grossen Aufschwung gebracht hat, sondern weil die marxistische Theorie ihn über die aus der Praxis des politischen Kampfes emporwachsender nur-politische Doktrin erhob. Jene damals herrschende doktrinäre Auffassung, nur die Politik könne helfen und Gewerkschaften seien nebensächlich, hat den späteren sogenannten Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaften mit erzeugen helfen. Aber die Marxisten sind ihr gerade am ersten entgegengetreten, ähnlich wie sie jetzt der Doktrin entgegentreten, die Löhne werden durch den Gewerkschaftskampf dermaßen steigen, dass eins revolutionäre Umwälzung unnötig wird. Zwischen Marxismus und Gewerkschaftsbewegung besteht also nicht nur kein Gegensatz, sondern der Marxismus als Theorie und der Gewerkschaftskampf als Praxis gehören gerade zusammen. Ein Gegensatz besteht nur zwischen dem Marxismus und jener Richtung in den Gewerkschaften, die sie dem grossen revolutionären Ziel der Arbeiterklasse entfremden will.

(ap)

Zeitungskorrespondenz, Nr. 93, 13. November 1909, Leipziger Volkszeitung, 13. November 1909

Quelle: aaap.be